Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
außer vermeidbaren Wahlniederlagen fallen mir rückblickend natürlich viele Dinge ein, die mich im ablaufenden Jahr stark beschäftigt haben. Siege und Niederlagen gehören in der Politik eben auch dazu - fast wie beim Fußball. Oft sind Niederlagen auch schnell wieder vergessen, wenn sich das Blatt wieder wendet. Doch am stärksten jedoch hat mich im ablaufenden Jahr ein erst kürzlich durchgeführter Besuch in der Körperbehindertenschule in Langensteinbach berührt. Dort werden junge Menschen mit zum Teil schwersten geistigen und körperlichen Behinderungen betreut und gefördert. Beeindruckt hat mich vor allem die Fröhlichkeit dieser Kinder. Gerade diejenigen von ihnen, die ihr Schicksal geistig erfassen können, hätten dabei doch eigentlich allen Grund, mit dem Schicksal zu hadern, griesgrämig und missvergnügt ihre Situation zu bejammern. Viele von ihnen mussten aufgrund schwerer und unheilbarer Erkrankungen sogar schon sehr konkrete Erfahrungen mit dem Tod von Mitschülern machen. Doch auch diese Jugendlichen traf ich optimistisch und fröhlich an, obohl sie und ihre Eltern früh von vielem Abschied nehmen müssen: Abschied von der Vorstellung an eine "normale" Karriere, vom Gedanken eine spätere Familiengründung und manche, trotz noch jugendlichen Alters, sogar von ihrem eigenen Leben.
Ich würde diese Kinder und Jugendlichen gerne einmal jenen Zeitgenossen vorstellen, die mir gelegentlich wegen banalster Kleinigkeiten Briefe schreiben und ein Geschrei anstimmen, als ginge die Welt unter. Ich bekomme manchmal Meinungen zu hören, über die man nur den Kopf schütteln kann. Vielleicht könnte ein Besuch in dieser Körperbehindertenschule bei manchem dieser Leute, die sich von krähenden Hähnen bis zum Geräusch läutender Kirchenglocken über alles aufregen können und wahrscheinlich dabei nur noch sich selbst und ihrer Umwelt auf die Nerven gehen, ein Prozess des Nachdenkens einsetzen. Des Nachdenkens, ob es andere nicht doch schwerer haben. Vielleicht reduzierten sich die Befindlichkeiten von uns "Gesunden" in Anbetracht dessen, was andere erleiden, auf ein gesundes Normalmass. Sicherlich gibt es auch berechtigte Klagen. Das Sparpaket der Bundesregierung wird leider auch den sozialen Bereich nicht ganz unberücksichtigt lassen können. Gerade da schmerzt es auch. Wir müssen aber sparen, um künftige Generationen nicht über Gebühr zu belasten und um uns eine dynamische Wirtschaft als Grundlage künftigen Wohlstands zu erhalten. Letzteres kann dabei aber sicher nicht alles sein. Das wissen wir. Denn wo nur noch Leistung und Erfolg zählen, wird die Menschenwürde verletzt. Aber gerade die weniger Leistungsfähigen haben ein Anrecht auf optimale Fürsorge und Förderung durch eine sozial gerechte Politik. Ich habe deshalb auch spontan eine Klasse dieser Behinderten eingeladen, im Rahmen ihrer Klassenfahrt nach Berlin mit ihren Rollstühlen im Reichstag vorbeizuschauen. Wir nehmen uns dann gemeinsam die Zeit, Berlin aus der Kuppel von oben zu betrachten. Ich nehme mir, bei aller Hektik des Berliner Politikbetriebs, diese Zeit wirklich sehr gerne. Denn wahrscheinlich können wir "Gesunden" von ihnen, den "Kranken", mehr über Geduld und Zufriedenheit lernen, als sie von uns wichtige Dinge erfahren können.
In diesem Sinne die besten Wünsche für die Feiertage und den bevorstehenden Jahreswechsel. Feiern Sie den Jahrtausendwechsel übrigens nicht allzu ausgiebig: Ein Student der Uni Karlsruhe hat mir kürzlich vorgerechnet, dass das neue Jahrtausend wegen des Jahres Null rein mathematisch eigentlich erst mit Ablauf des 31. 12. 2000 beginnt. So gesehen haben wir sogar nochmals ein Jahr Zeit, uns auf dieses neue Jahrtausend zu freuen und übertriebene Gemütslagen abzustreifen. Alles Gute für Sie und Ihre Familien.
Ihr Jörg Tauss