Jörg Tauss, MdB


Zugänglichkeit und Verwendung von Unterlagen und Ergebnissen von Abhöraktionen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR

Vorbemerkung:

Der Bundespräsident Johannes Rau bewertet den gegenwärtigen Streit über den weiteren Umgang mit den Akten und Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes mit folgenden Worten: "Darum meine ich, dass man jeden Anschein vermeiden soll, als seien die Bürger im Osten die Menschen 2. Klasse. Das geht nicht." Weiter heißt es: "Was privat gewesen sei, gehöre allerdings nicht in die öffentlichkeit. Rau riet beim Streit um die Kohl-Akten zur Diskussion ohne Emotionen." Folgt man dieser Empfehlung und sucht zunächst einen sachlichen Diskurs über die Frage, wer unter welchen Umständen Zugang zu welchen Akten und Dokumenten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit haben soll, und wer nicht, wäre schon viel gewonnen. Dann würde man erkennen, dass es schon einen entscheidenden Unterschied ausmacht, ob diese Akten von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung unerlaubten Finanzgebarens einer Partei diese Unterlagen angefordert werden, oder ob Wissenschaft und Medien im Interesse der Aufklärung und Aufarbeitung dieses Unrechtsapparates Zugang zu diesen Unterlagen haben sollen.

Die folgenden überlegungen beziehen sich daher lediglich auf die Fragen des Zugangs und der Verwendung von Unterlagen und Ergebnissen von Abhöraktionen des MfS durch Wissenschaft und Forschung sowie durch Medien im Rahmen des Gesetzeszweckes "für die politische und historische Aufarbeitung". Ausgeblendet bleibt hier die Frage, ob und inwiefern parlamentarische Untersuchungsausschüsse Zugang zu diesen Unterlagen haben und welche Verwendung diese dort finden dürfen. Diese Fragestellung bedarf weiterer rechtlicher, vor allem auch verfassungsrechtlicher überprüfungen, die hier nicht geleistet werden und bei der hier gestellten Fragestellung auch unberücksichtigt bleiben kann.

Auch wenn die Frage sehr theoretisch erscheint: Ob ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Veröffentlichungen von Stasiunterlagen über Personen der Zeitgeschichte in den Medien zur Kenntnis nehmen darf oder im schlimmsten Fall - da diese Informationen ausgeblendet bleiben müssen - wider besseres Wissen einen untauglichen oder falschen Bericht abliefern muss, ist für diese Fragestellung zunächst zweitrangig. Zunächst geht es um die Fragestellung, ob und unter welchen Voraussetzung Wissenschaft und Forschung sowie Medien im Interesse der Aufklärung über die Strukturen und der Arbeitsweise des MfS Zugang zu diesen Unterlagen haben und wie sie diese verwenden dürfen.

Ausgangspunkt:

Das Stasiunterlagen-Gesetz (StUG) wurde im November 1991 - als "Vermächtnis einer Revolution" (BStU) - vom Deutschen Bundestag verabschiedet. Zwar wurde hin und wieder festgestellt, dass dieses Gesetz in den Wirren der Revolution mit "heißer Nadel" gestrickt wurde, dennoch hat es sich in diesen bald zehn Jahren bewährt. Dabei ist dieses Gesetz von Anfang an - also vom Volkskammergesetz über die "Sicherung und Nutzung personenbezogener Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit" bis zum vom Bundestag am 13. November 1991 beschlossenen (Inkraftreten am 20.12.1991) Stasiunterlagen-Gesetz (StUG) - sowohl als "Opferschutzgesetz" (BfD) als auch als "Veröffentlichungsgesetz" (Gauck) und Aufarbeitungsgesetz konzipiert. So standen denn auch zunächst die Datenschutzbeauftragten (West, denn ein vergleichbarer Datenschutz war in der ehemaligen DDR unbekannt) diesem Gesetz skeptisch gegenüber, haben jedoch dann, wie es der Berliner Datenschutzbeauftragter formuliert, folgendes erkannt: "Wir sind zu der überzeugung gekommen, dass die Zwecke, die mit der weiteren Aufbewahrung der Daten verfolgt werden soll, wie die individuelle Rehabilitation oder die politisch-historische Aufarbeitung Werte darstellen, die höher veranschlagt werden müssen als der individualrechtliche Aspekt der informationellen Selbstbestimmung." Der Zielkonflikt zwischen dem Schutz der informationellen Selbstbestimmung auf der einen und dem Aufklärungs- und Veröffentlichungsgebot des Gesetzes auf der anderen Seite wurde also bewußt in Kauf genommen, weil der Wert der politisch-historischen Aufarbeitung der Strukturen des MfS und dessen Arbeitsweise höher eingeschätzt wurde.

So ist es das Ziel des Gesetzes (§ 1), dem Einzelnen Zugang zu den Informationen zu erlauben, die den Einfluss des MfS auf sein persönliches Schicksal aufklären können (§ 1 Abs. 1). Daneben ist es das Ziel dieses Gesetzes, den Einzelnen davor zu schützen, dass er durch den Umgang mit diesen vom MfS gespeicherten Informationen in seinem Persönlichkeitsrecht eingeschränkt wird (§ 1 Abs. 2). Gleichrangiges Ziel dieses Gesetzes ist es jedoch auch, die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsapparates, der das Unrechtssystem in der DDR getragen hat, zu gewährleisten und zu fördern (§ 1 Abs. 3).

Zu unterscheiden ist zum einen die rechtliche Bewertung, wer denn nun eigentlich - als Person der Zeitgeschichte oder Amts- und Mandatsträger - "Betroffener" oder "Dritter" im Sinne des Gesetzes ist, und einen höheren Schutz genießt. Diese Bewertung erweist sich auf den ersten Blick aufgrund zweier sich widersprechender Rechtsgutachten als problematisch. Bei genauerer Betrachtung dieser Gutachten fällt jedoch auf, dass sich die Aussagen eines Gutachtens im Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers, zur 10-jährigen Praxis der Gauck-Behörde und auch im Widerspruch zur juristischen Literatur befinden. Zudem sind einige Schlußfolgerungen des Gutachtens sowie die Einordnung der juristischen Literatur zum Teil als zumindest problematisch einzuschätzen.

Weitaus schwieriger als die rechtliche Einschätzung ist die jedoch politische Bewertung und die Abschätzung der Folgen der jetzigen Diskussion um ein Verbot der Herausgabe dieser Akten über Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger in Ausübung ihres Amtes: Zum einen wird dieser Konflikt zur Auseinandersetzung zwischen Ost und West hochstilisiert. Zum anderen muss der Eindruck entstehen, dass es hier nicht allein um die Debatte um Parteispenden und um die Person von Helmut Kohl geht, sondern dass der Zugang zu den Akten (westdeutscher) Personen der Zeitgeschichte generell beschränkt werden soll. Der Eindruck wird sich dann nicht vermeiden lassen, dass hier jemand etwas zu verbergen hat. In der Debatte bisher nur am Rande mit in diese Diskussion einbezogen wird die Frage nach dem Umgang mit den sogenannten Rosenholz-Dateien.

Im folgenden sollen daher zunächst überblicksartig die zentralen Aussagen der beiden Gutachten und die Rechtsauffassung der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen gegenübergestellt werden. Diese Gegenüberstellung und vor allem die Bewertung sowie die hektische Debatte ohne jede Notwendigkeit läßt den Schluß zu, dass die aktuelle Debatte - nämlich die angekündigte Veröffentlichung der zusammenfassenden Abhörprotokolle über Helmut Kohl vor dem Hintergrund der CDU-Parteispendenaffäre - lediglich den Anlass, nicht aber den eigentlichen Grund für die derzeitige Debatte liefern kann.

Rechtliche Bewertung:

Zur rechtlichen Bewertung sind vor allem die zwei vorgelegten Gutachten hinzuzuziehen: Hierbei stehen sich die Aussagen des vom Bundesminister des Innern in Auftrag gegebenen Gutachtens von Prof. Dr. Philip Kunig und das von der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes in Auftrag gegebene Gutachten von Prof. Dr. Klaus Marxen und Prof. Dr. Gerhard Werle diametral entgegen. Entscheidend ist hierbei die Fragestellung, wann "Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger in Ausübung ihres Amtes", die dem Gesetz nach beim Umgang mit den Staatssicherheitsunterlagen ein geringeres Schutzniveau hinnehmen müssen, zugleich "Betroffene" oder "Dritte" im Sinne des Gesetzes sind und somit wiederum ein hohes Schutzniveau in Anspruch nehmen können.

Die in den Medien hochstilisierte Feststellung, dass es sich bei den Abhörprotokollen um illegale Praktiken seitens des MfS handelt, die nicht nachträglich durch die Veröffentlichung in einem Rechtsstaat legitimiert werden dürften, trägt nicht als Argument, da - aus rechtsstaatlicher Perspektive - nahezu alle Unterlagen des MfS auf illegale Weise erlangt wurden. Folgt man diesem Argument, dann dürfte die Gauck-Behörde vermutlich überhaupt keine Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes herausgeben. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist genau deswegen ein Veröffentlichungsgesetz dieser unrechtmäßig erworbenen Informationen und verzichtet daher völlig zu Recht auf eine Unterscheidung, auf welche Art und Weise die jeweiligen personenbezogenen Informationen seitens des MfS erlangt wurden. Es war auch bei der Verabschiedung des Gesetzes bekannt, dass die Akten bewusst unter dem Bruch des Telephon- und Briefgeheimnisses angelegt wurden. Das war die Arbeitsweise des Staatssicherheitsapparates - und diese aufzuklären, ist erklärtes Ziel des Stasi-Unterlagen-Gesetzes.

Hintergrund der juristischen Auseinandersetzung ist die Auslegung des § 32 StUG zur "Verwendung von Unterlagen für die Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes" zu Zwecken der Forschung der politischen und historischen Aufarbeitung sowie für die Zwecke der politischen Bildung und analog dazu § 34 zur "Verwendung von Unterlagen durch Presse, Rundfunk und Film".

§ 32 Abs. 1 Nr. 3 sagt aus, dass der Bundesbeauftragte zur Verfügung stellt: Unterlagen mit personenbezogenen Informationen über

soweit keine überwiegenden schutzwürdigen Interessen der genannten Personen beeinträchtigt werden.

Dabei ist diese Regelung im Zusammenhang mit § 6 Abs. 8 zu lesen, demzufolge "für jede Information gesondert festzustellen ist", ob die jeweilige Person Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, Begünstigte, Betroffene oder Dritte im Sinne des Gesetzes ist. Das gilt auch für § 32, der sonst leer liefe, das für jede Information geprüft werden muss, ob es sich bei dieser Information mit personenbezogenen Daten um eine Person der Zeitgeschichte oder aber Amts- oder Mandatsträger handelt, oder ob es sich um Informationen aus dem Bereich der Privatsphäre handelt und somit um einen Betroffenen.

Kunig-Gutachten:

Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger in Ausübung ihres Amtes, die ohne ihr konkretes Wissen und ohne Einwilligung von Abhör- oder Ausspähaktionen des MfS betroffen waren, stets Betroffene oder Dritte im Sinne des StUG sind. Unterlagen, Abhörprotokolle und auch nicht zusammenfassende Mitschriften dürfen demnach nur dann herausgegeben und veröffentlicht werden, wenn der Betroffene einwilligt.

Der Autor geht noch weiter: In Bezug auf Rolle, Funktion oder Amt erweitert er den Schutzbereich des Privaten um die Figur "Vertraulichkeit" (der "Gegenbegriff zu ‚öffentlich' ist dabei nicht ‚privat', sondern ‚vertraulich'" - so das Gutachten!). "Durch Abhören erlangte personenbezogene Informationen sind in Bezug auf den gezielt Abgehörten Informationen über einen Betroffenen, in Bezug auf die Gesprächspartner Informationen über Dritte. Informationen über Personen, die Inhalt des Gespräches sind, sind Informationen über Dritte, sofern es sich nicht um Informationen handelt, deren sich diese Person amtlich (offiziell) bzw. öffentlich (nicht vertraulich) entäußert hat. Alle vertraulichen Informationen, damit auch solche, deren Vertraulichkeit auf einen besonderen gesetzlich geschützten Vertrauensverhältnis beruht, sind als personenbezogene Informationen über Betroffene, zumindest aber über Dritte unzugänglich."

Marxen-/Werle-Gutachten:

Das Gutachten macht in aller Klarheit deutlich, dass sich eine solche Interpretation weder einer überprüfung hinsichtlich der grammatischen, noch der historischen und auch nicht der teleologischen Auslegung standhalten kann. Die Autoren kommen eindeutig zu dem Ergebnis, dass die Bundesbeauftragte grundsätzlich verpflichtet ist, Stasi-Unterlagen mit personenenbezogenen Daten über Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen und Amtsträger für die Forschung zum Zwecke der historischen und politischen Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes zugänglich zu machen. Dies gilt nur dann nicht, soweit es sich um Informationen aus dem Bereich der Privatsphäre der betreffenden Person handelt, oder wenn nach den Umständen des Einzelfalls die Verwendung schutzwürdige Interessen der betreffenden Person beeinträchtigt. Entscheidend ist dabei die Zweckbindung: So können also die Unterlagen nicht mit Verweis auf einen Parteispendenskandal, sondern allein zur Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsapparates und seiner Strukturen angefordert werden. Unerheblich ist, auf welche Weise die Informationen vom Staatssicherheitsdienst gewonnen wurden. Gleiches gilt für die Medien, wobei die Autoren auch hier die Behauptung des Kunig-Gutachtens, wonach die Medien keinerlei Zweckbindung unterliegen, zu Recht bestreiten. Die maßgebliche Zweckbindung wurde bereits mit der Spezialnorm § 32 formuliert, auf den sich die Regelungen für die Medien in § 34 beziehen.

Auslegung in der 10-jährigen Praxis durch die Gauck-Behörde:

Der BStU vertritt die Auffassung, dass der Gesetzgeber mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz eine "umfassende historische und politische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes gewährleisten und fördern wollte". Dies sei nur dann möglich, wenn Informationen, die über Politiker, Amtsträger und Personen der Zeitgeschichte - die natürlich für den Staatssicherheitsapparat von besonderem Interesse waren - erhoben oder gesammelt worden seien, in die Verwendung einbezogenen würden. Deshalb hat der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Gesetzes Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen und Amtsträger allgemeinen Grundsätzen folgend als weniger schutzwürdig eingestuft als andere Betroffene. Der Verweis auf die Behandlung als "Betroffene" oder "Dritte" sei für diese Personengruppe nur so zu verstehen, dass sie hinsichtlich ihrer Privat- und Intimsphäre den gleichen Schutz genießen sollen wie andere Betroffene. Personenbezogene Informationen, die den Bereich des öffentlichen Wirkens treffen, dürfen daher grundsätzlich herausgegeben werden, soweit durch die Herausgabe keine überwiegend schutzwürdigen Interessen der genannten Person im Einzelfall beeinträchtigen.

Zusammenfassende rechtliche Bewertung:

Die Rechtsauffassung und die 10-jährige Praxis der Bundesbeauftragten wird durch das Gutachten von Marxen und Werle bestätigt. Das Gutachten von Kunig kommt zwar zu einem anderem Ergebnis, dieses hält jedoch einer genaueren Prüfung nicht stand und steht im Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers und auch im Widerspruch zur juristischen Literatur: Die Bundesbeauftragte ist dem Gesetz nach verpflichtet, Unterlagen des MfS über Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger in Ausübung ihres Amtes an die Wissenschaft und die Medien herauszugeben, soweit sie nicht Betroffene oder Dritte sind. Der einschlägige Kommentar bestätigt diese Auslegung, an die sich die Gauck-Behörde in den zehn Jahren ihres Bestehens auch streng gehalten hat: "Als Betroffene oder Dritte haben Amtsträger oder Inhaber politischer Funktionen gehandelt, wenn sie nicht in Ausübung ihres Amtes oder ihrer Funktion tätig geworden sind. Das ergibt sich aus § 6 Abs. 8, der vorschreibt, dass für jede Information gesondert festzustellen ist, ob Personen Mitarbeiter, Begünstigte, Betroffene oder Dritte sind."

Strittig war, zu welchem Zeitpunkt eine Person eine Person der Zeitgeschichte sein musste, ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt oder aber zum Zeitpunkt der Erfassung durch das MfS. Hier hat sich völlig zu Recht die Meinung durchgesetzt, dass wer gegenwärtig Person der Zeitgeschichte, Amtsträger oder Inhaber einer politischen Funktion ist, damals aber nicht, zum Zeitpunkt der Aufzeichnung durch das MfS Betroffener oder Dritter war.

Auch die zum Teil diskutierte Auslegung, dass es sich bei Personen der Zeitgeschichte oder Amtsträgern um ämter der DDR handeln müsste, ist nicht haltbar. Die Tätigkeit des MfS war ja nicht nur nach innen gerichtet. Eine solche Auslegung würde die politische und historische Aufarbeitung in unzulässiger Weise auf das Territorium der ehemaligen DDR begrenzen. Eine solche Begrenzung zieht das Gesetz jedoch bewußt nicht, es geht vielmehr um die umfassende politische und historische Aufarbeitung dieses Unrechtsapparates und die Aufdeckung seiner Strukturen und Arbeitsweise in Ost und in West.

Eine andere Auslegung des § 32 (in Zusammenhang mit § 6 Abs. 8), wie dies das Gutachten von Kunig versucht, würde zudem dem Willen des Gesetzgebers widersprechen, wie dies in dem Gutachten von Marxen und Werle und in den Materialen aus der Entstehungszeit des Gesetzes unschwer zu entnehmen ist. Außerdem wäre eine andere Auslegung wenig sinnvoll, weil sie den gesamten § 32 (Forschung und politische Bildung) und auch den darauf basierenden § 34 (Medien) leerlaufen ließe - und damit den Zweck des Gesetzes vollständig ignorieren würde. Da die Passage "soweit sie nicht Betroffene oder Dritte sind" erst während des Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde, ist vielmehr zu vermuten, dass es der Gesetzgeber versäumt hat, diese begriffliche Klarstellung, wann jemand Person der Zeitgeschichte oder aber Betroffener/Dritter ist, auch in § 6 Abs. 8 einzubauen. Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit jedoch so auszulegen, dass Personen der Zeitgeschichte sowie Amts- und politische Mandatsträger immer als Betroffene oder Dritte im Sinne des Gesetzes anzusehen sind, wie dies in dem Gutachten von Kunig der Fall ist, würde jedoch bedeuten, den Zweck des Gesetzes - nämlich die historische und politische Aufarbeitung dieses Unrechtsapparates in Ost und West - vollständig auszuhebeln und die Funktion der Gauck-Behörde auf die Bedeutungslosigkeit zurückzustufen.

Politische Bewertung: Zugang zu den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes im Interesse der Aufklärung und Aufarbeitung sicherstellen!

Aus politischer Perspektive erscheinen vor allem folgende Punkte als höchst problematisch und sollten vor einer politischen Entscheidung diskutiert werden:
Zum einen wird nun - ohne jeden Zeitdruck - die Debatte um die Veröffentlichung von Abhörprotokollen und diese zusammenfassende Dokumente zum Anlass genommen, die Herausgabe von Unterlagen und Dokumenten der Staatssicherheit über Personen der Zeitgeschichte (West) durch die Bundesbeauftragte generell in Frage zu stellen. Hierbei werden sowohl die vollständige Sperrung des Zugangs und eine Vernichtung der Stasi-Unterlagen diskutiert, wie auch eine 30-jährige Sperrfrist für den Zugang zu diesen Akten durch Wissenschaft und Medien. Dies hätte zur Folge, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieses diktatorischen überwachungsapparates, die gerade erst ermöglicht wurde, schnell wieder zu Ende wäre. Auch die Funktion der Medien, im Rahmen ihres Beitrages zur Meinungs- und Willensbildung über die Strukturen und die Arbeitsweise dieses Instrumentes - das sich selbst als "Schild und Schwert der Partei" verstand und ohne das das Unrechtssystem wohl kaum hätte funktionieren können - zu berichten, wäre dann hinfällig. Es ist ja durchaus denkbar, dass man zehn Jahre danach die überlegung vertritt, es müsse nun endlich Schluss sein mit der öffentlichen Diskussion um die DDR-Vergangenheit und die Spitzeltätigkeit des MfS - dann sollten diese jedoch auch so begründet werden.

Vor diesem Hintergrund ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass die erwogene Anweisung seitens der Bundesregierung, die der Bundesbeauftragten im Rahmen der Rechtsaufsicht durch einen Kabinettsbeschluss die Herausgabe dieser Akten verboten hätte, offensichtlich nicht weiterverfolgt wird. An dieser wichtigen Entscheidung sollte festgehalten werden. Dies vor allem auch deshalb, weil die ebenso vom Gesetzgeber festgelegte "Unabhängigkeit" der vom Parlament gewählten Bundesbeauftragten Veranlassung geben sollte, mit dem Mittel der Rechtsaufsicht äußerst vorsichtig umzugehen - wobei diese Unabhängigkeit nicht bedeutet, wie teilweise in den Medien dargestellt, sich über geltendes Recht hinwegsetzen zu können.

Zunächst sollte die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichtes, das ja bereits mehrfach ähnliche Fragestellungen bewerten musste, abgewartet werden. Auch dann stehen dem Betroffenen ja weitere rechtliche Möglichkeiten zu. Die Bundesbeauftragte hat unmissverständlich klargestellt, sie wolle vor einer Freigabe der Akten die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichtes abwarten.

In vergleichbaren Fällen hat das Berliner Verwaltungsgericht die Rechtsauslegung der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes bestätigt. Der Vergleich der Aussagen der vorgelegten Gutachten und die genauere (auch historische) Betrachtung des Gesetzgebungsprozesses, lässt mich zu dem Schluß kommen, dass die Bundesbeauftragte, wie auch ihr Vorgänger, mit der angekündigten Freigabe genau nach den Vorgaben des Stasi-Unterlagen-Gesezes handelt. Diese Auslegung wird durch die Kommentierungen zu diesem Gesetz und auch durch das Gutachten von Marxen und Werle gestützt.

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz unterscheidet nicht zwischen Fallkonstellationen Ost und West. Bislang handelte es sich bei den Personen der Zeitgeschichte, über die Akten in der öffentlichkeit erschienen sind, in der Regel bzw. überwiegend um DDR-Politiker. Nun steht die erste Veröffentlichung über einen namhaften Westpolitiker auf der Tagesordnung. Warum sollte nun das Gesetz anders ausgelegt werden? Es zwängt sich der Verdacht auf, dass diese Eile weniger mit dem aktuell diskutierten Fall vor dem Hintergrund der Parteispendenaffäre zu tun hat, als dass es vielmehr generell um die Veröffentlichungen von Stasi-Unterlagen über westdeutsche Politiker und um die Informationen der sogenannten Rosenholz-Dateien geht. Wenn also der Zugang zu diesen Unterlagen nun gesperrt werden sollte, so wird die die Medien beherrschende Fragestellung werden: Wer hat was zu verbergen, dass nun der Zugang zu diesen diese Akten und Informationen durch Wissenschaft und Medien verhindert werden soll?

Dann bleibt zu fragen: Wenn es dem Unrechtsstaat DDR und seinem Instrument Staatssicherheit gelungen ist, das Kanzleramt und Regierungsmitglieder oder aber sonstige wichtige Entscheidungsträger auszuspionieren, wenn es gar gelungen sein sollte, an wichtige Schaltstellen der Regierung und der Regierungs- und Oppositionsparteien "Informelle Mitarbeiter" einzuschleusen, ob es dann vor dem Hintergrund des wichtigen Aufklärungsgebotes wirklich gerechtfertigt ist, diese Unterlagen mit dem Verweis auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte "wegzuschließen". Der Schutz der Privatsphäre ist kein absolutes Recht und wird - beispielsweise im Interesse der öffentlichen Sicherheit und der Strafverfolgung - an vielen Stellen eingeschränkt. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz schränkt diese im öffentlichen Interesse der Aufklärung über die Strukturen und Arbeitsweise des MfS ein. Und: Aufklärung bedeutet eben auch, sich unbequemen Wahrheiten zu stellen. Den Menschen in Ostdeutschland hat man dieses Sich-der-Vergangenheit-Stellen zugemutet, viele haben aufgrund ihrer Verbindung zum MfS ihren Job - und dies oft auf Lebenszeit - verloren. Nun, wenn es darum geht, die Aktivitäten der Staatssicherheitsdienst im Westen und die daraus resultierenden Folgen aufzuklären, mag man sich dieser unbequemen Wahrheit nicht mehr stellen?

Informationen über die Privatsphäre von Personen der Zeitgeschichte oder Amts- und politischen Mandatsträgern sind mit dem StUG auch heute geschützt und die praktischen Erfahrungen mit dem StUG belegen, dass dieses Recht auch uneingeschränkt beachtet wurde und wird. Doch unter diesen Schutz fallen eben gerade nicht Informationen in Ausübung des jeweiligen Amtes oder der jeweiligen Funktion. Problematisch wird es vor allem dann, wenn personenbezogene Informationen zwar eindeutig der Privatsphäre einer Person der Zeitgeschichte zuzuordnen sind, es jedoch konkrete Hinweise dazu gibt, dass der Staatssicherheitsdienst genau jene Informationen zur Erpressung oder ähnlichem ausgenutzt hat.

Zum anderen würde eine solche Auslegung des Gesetzes, wie Kunig sie vornimmt, nicht nur die Regelung des § 32 ff. ins Leere laufen lassen und die Verfahren der vergangen zehn Jahre in eine höchst problematische Rechtsunsicherheit rücken - vor allem würde man mit einer solchen Auslegung das wichtige Ziel des Gesetzgebers, die Strukturen und Arbeitsweise des MfS aufzuklären, ignorieren. Wenn man dies tatsächlich will, dann sollte man dies auch öffentlich so begründen.

Berlin, im Dezember 2000
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