Jörg Tauss, MdB


Alle Reden der 14. Legislatur 05.06.02

Jörg Tauss, MdB

Rede zur Aktuellen Stunde "Antisemitismus und die FDP"

Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,

in einer Berliner Tageszeitung ist heute von der "liberalen Meinungsdiktatur" die Rede. Gemeint ist mit diesem Wortungetüm wohl, dass es in unsere Gesellschaft Themen gibt, über die man geflissentlich schweigt - Themen, die tabuisiert sind. Und die FDP scheint sich - die Erfolge anderer rechtspopulistischer Parteien vor Augen - die Rebellion gegen angebliche Meinungskartelle auf die Fahnen geschrieben zu haben.

Aus diesem Grund bemühen sich Möllemann und die FDP-Spitze, diesen neuen Antisemitismusstreit als mehr oder minder inszenierten "Tabubruch" schönzureden. So lässt sich Möllemann gern mit Sätzen zitieren wie dem folgenden: "Wir müssen Dinge aussprechen, die von anderen Politikern, aus welchen Gründen auch immer, tabuisiert werden." Doch: Ist es in unserer Gesellschaft ein Tabubruch, die israelische Regierung zu kritisieren oder ist es ein Tabubruch, mit antisemitischen Ressentiments Wahlkampf zu machen?

Ist es ein Tabubruch, wenn ein stellvertretender Vorsitzender einer Partei sagt: "Ich fürchte, dass kaum jemand den Antisemiten, die es in Deutschland leider gibt und die wir bekämpfen müssen, mehr Zulauf verschafft hat als Herr Scharon und in Deutschland ein Herr Friedman mit seiner intoleranten und gehässigen Art." Zitat-Ende. Jüdische Mitbürger seien demnach selbst die Verursacher oder tragen sogar selbst Schuld am Anwachsen des Antisemitismus. Es ist kein Tabubruch und wir sollten Tabubruch auch nicht verwechseln mit dumpfen Antisemitismus.

Ist es ein Tabubruch, wenn derselbe stellvertretende Bundesvorsitzende sagt: "Ich würde mich auch wehren. Und zwar mit Gewalt. Ich bin Fallschirmjägeroffizier der Reserve. Es wäre dann meine Aufgabe, mich zu wehren. Und ich würde das nicht nur im eigenen Land tun, sondern auch im Land des Aggressors"? Was heißt das denn? In diesem Verständnis, so hat es Henryk M. Broder auf den Punkt gebracht, handeln - Zitat - "ebenso wie deutsche Antisemiten auch palästinensischen Terroristen immer in Notwehr, egal wie viele Unbeteiligte sie in den Tod mitnehmen."

Widerstandsrecht darf nicht mit Terror und Massenmord verwechselt werden. Ein Widerstandsrecht anzuerkennen kann doch nicht heißen, Selbstmordanschläge mit zahlreichen unschuldigen Opfern zu legitimieren.

Wenn es also einen Tabubruch gegeben hat, dann ist es nicht die Tatsache, dass man natürlich die israelische Regierung oder Personen wie Herrn Friedmann kritisieren können muss - und es ist heuchlerisch zu sagen, dass dies nicht möglich wäre. Kritik an Israel ist nicht gleichzusetzen mit Antisemitismus. Auch in Israel selbst gibt es diese Debatte und diese Kritik.

Uri Averny beschreibt das so: "Man tut uns keinen Gefallen, wenn man uns nicht kritisiert. Wer einen Menschen liebt, darf und muss ihm die Wahrheit ins Gesicht sagen. Deutsche, die für die Existenz Israels sind, sollten die Ersten sein, diejenigen Israelis zu unterstützen, die in Israel für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen." Der eigentliche Tabubruch liegt vielmehr in der Tatsache, dass es - bei allen demokratischen Parteien in Deutschland - bislang undenkbar war, mit dem Instrumentalisieren von antisemitischen Ressentiments Wahlkampf zu machen.

Und es scheint Kalkül dahinter zu stehen, wofür das halbherzige Relativieren dieser Äußerungen als wochenlange Zornesausbrüche und das beständige Weigern, sich hierfür beim Zentralrat der Juden zu entschuldigen, Beleg genug sind: Der Populist, so möchte er gesehen werden, sagt frei heraus, was viele denken, was die meisten aber sich nicht zu sagen trauen. Und: Was gesagt ist, bleibt gesagt. Und eben darauf scheint Möllemann und die Fußsohlenstrategie 18 zu setzen: Das potentielle Rechts-Liberale unterstellen, dass er - also Möllemann - (noch) nicht sagen darf, was er denkt und ihn eben dafür wählen. Zu Möllemann kann man daher mit Enzensberger feststellen: "Mittelmaß und Wahn verhalten sich komplementär zueinander" - und damit ist zu ihm eigentlich alles, was zu sagen ist, gesagt.

Möllemann schadet jedoch nicht nur sich, sondern dem Ansehen seiner Partei und dem Ansehen unseres Landes. Ich möchte Ihnen an einem Beispiel verdeutlichen, in was für eine Lage uns eigentlich diese Debatte der FDP - dausgerechnet die alte liberale Partei Genschers und Hamm-Brüchers - bringt. Seit einigen Jahren lade ich israelische und deutsche Jugendliche nach Berlin ein und es waren jedes Mal spannende und interessante Begegnungen zwischen jüdischen, arabischen und christlichen Jugendlichen. Das Bedrückendste an den Gesprächen war für mich immer, die Beschreibung der Allgegenwärtigkeit der Angst. In wenigen Tagen erwarte ich wieder eine Gruppe junger Israelis. Und ich überlege mir seit nunmehr mehr als zwei Wochen, was ich diesen jungen Menschen sagen soll, wie ich ihnen diese Debatte erklären soll. Soll ich Ihnen - wie Herr Möllemann offensichtlich der Auffassung ist - sagen, dass sie selbst Schuld daran tragen, wenn sie nicht ein normales Leben leben können? Das sie selbst Schuld daran tragen, wenn sich palästinensischen Selbstmordattentäter in Fußgängerzonen, Bussen oder Diskos in die Luft sprengen und immer mehr Unschuldige mit in den Tod reißen? Salomon Korn hat also Recht in seiner Feststellung, dass der Tabubruch inszeniert ist. Und leider muss man dieses Zitat ergänzen: Der Tabubruch ist inszeniert, um den eigentlichen Tabubruch zu verdecken.

Die FDP spielt mit dem neuen Antisemitismus und das inszenierte Brechen von angeblichen Tabus dient lediglich dazu, den eigentlichen Tabubruch zu verschleiern. Es bleibt die entscheidende Frage, deren Beantwortung Herr Westerwelle, noch immer aussteht. Die Frage ist, ob es sich bei diesem inszenierten Tabubruch tatsächlich um eine persönliche Auseinandersetzung und Missverständnisse oder doch um eine angelegte Strategie der FDP handelt. Der Vorsitzende der FDP scheint die Antwort mit einem morgen erscheinenden Interview im "Stern" zu geben, das mit dem Titel "Diese Tabuwächter können mir gestohlen bleiben" überschrieben ist und in dem der Parteichef ganz offen dafür eintritt, auch am rechten Rand des politischen Spektrums um Wähler zu werben. Die FDP wolle dem Interview zufolge bei der Bundestagswahl das große Protestpotenzial in der Bevölkerung von 25 Prozent ausschöpfen. Der Vorsitzende der FDP war es, der vor einem Jahr eine neue Normalität beim Umgang mit der deutschen Geschichte thematisierte. Er wird zitiert mit den Worten, dass die Jugend vom Zwang befreit werden müsse, "mit gebeugtem Haupt und gebeugtem Gang" durchs Leben zu laufen. Doch kann das heißen, Geschichte zu relativieren und Erinnerung zu vernachlässigen?

In seiner wichtigen Rede zum 8. Mai 1985 hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in aller Deutlichkeit vor dem Deutschen Bundestag darauf hingewiesen, dass es Versöhnung ohne Erinnerung nicht geben kann. Und weiter heißt es in dieser Rede: "Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird." In der Berliner Erklärung der FDP aus der vergangnen Woche heißt es, dass jeder Versuch, "deutsche Politik aus der historischen Verantwortung zu reißen, an der FDP scheitern wird." Wenn dem so ist, Herr Westerwelle, dann tun Sie endlich etwas. Deutschland braucht keinen Populisten Möllemann, aber was uns zunehmend fehlt, ist eine liberale Partei, die diesen Namen auch verdient.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


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