Jörg Tauss, MdB
Bildungs- und forschungspolitischer Sprecher
der SPD-Bundestagsfraktion
Die Bio- und Gentechnologie ist eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts und sie berührt eine Vielzahl unserer Lebensbereiche. Aber wir haben es - wie bei jeder Technologie - mit Ambivalenzen zu tun: Während auf der einen Seite enorme Erwartungen hinsichtlich der Chancen - mit Blick auf Heilung von Krankheiten etwa - dieser neuen Technologie entgegengebracht werden, gehen auf der anderen Seite enorme Ängste damit einher. Auch die Bio- und Gentechnologie wird nicht alle Probleme lösen und alle Erwartungen erfüllen können und die Risiken, die hiermit verbunden sind, gilt es zu erkennen und minimieren. Dabei gibt es - und auch dies gilt wieder für jede Technologie - Fragestellungen, die nicht mit technologischen, sondern in gesellschaftlichen Dimensionen beantwortet werden müssen. Und gerade bei diesem Thema wird deutlich, dass es eben ein zentrales Merkmal der modernen Gesellschaft ist, dass es keine allgemeingültigen Wahrheiten mehr gibt: Wir nennen unsere moderne Gesellschaft nicht allein deshalb komplex, weil sie zunehmend kompliziert ist und uns überfordert, sondern weil sie keinen Ort mehr kennt, von dem aus allgemeingültige und universelle Wahrheiten begründet werden könnten. Sie ist vielmehr deshalb komplex, weil weder politische Autorität, noch ökonomische Nutzenkalküle und noch wissenschaftliche Rationalität, aber eben auch nicht mehr allein die Religion oder die Jurisprudenz, für die Gesellschaft als Ganzes sprechen können.
Wir stehen vor einer ethisch bedeutsamen Fragestellung. Die Frage ist, wie wir mit den neuen Möglichkeiten der Gen- und Biotechnologie umgehen und welche Grenzen wir gegebenenfalls ziehen sollten. Die besonderen Chancen, die die Biomedizin und die moderne Gentechnologie möglicherweise bieten, liegen vor allem in der Heilung von bisher als nicht oder nur als schwer behandelbar angesehener Krankheiten und in der Ergänzung der klassischen Pflanzen- und Tierzüchtung durch biotechnologische Verfahren. Die Hoffnung auf die frühzeitige Diagnose von Dispositionen für Erkrankungen und die verbesserte Behandlung solcher Erkrankungen wie auch die zellbiologische Behandlung von Gewebezerstörungen kann für viele Betroffene von hoher Bedeutung werden. Von positivem Einfluss für die Welternährungssituation wird die Züchtung extremophiler Pflanzen (z.B. salzharte Pflanzen, trockenheitsresistente Pflanzen, herbizidresistente Pflanzen), allergenverarmter Pflanzen und ernährungsphysiologisch optimierter Pflanzen (z.B. Vitamin-A-angereicherter Reis gegen frühkindliche Erblindungen) und Tiere werden (vgl. UNDP-Report 2001). Transgene Organismen als Produzenten von Heilmitteln (Nutrazeutika, Pharmazeutika) werden an Bedeutung gewinnen.
Diskussionsbedarf ist dort gegeben, wo in Grenzbereiche ethisch vertretbarer Forschung eingedrungen wird, vor allem dann, wenn in anderen Staaten diese Grenzen anders definiert werden. Der deutsche und der europäische Weg in die moderne Biomedizin und Biotechnologie muss deshalb von einer verantwortungsbewussten gesellschaftspolitischen Diskussion begleitet werden. Ethisch vertretbar ist der Weg der prädikativen genetischen Diagnose mit der Begleitung einer angemessenen Beratungsmedizin ("sprechende Medizin") und adäquater konventioneller Behandlung und/oder somatischer Gentherapie sowie derjenige, bei dem mit sogenannten adulten humanen Stammzellen der Versuch unternommen wird, körpereigenes Gewebe zu stabilisieren und beschädigte Zellen, z. B. nach einem Herzinfarkt, bei neurodegenerativen Erkrankungen (z.B. Parkinson), bei Diabetes mellitus oder nach Unfällen mit Gewebezerstörungen u.a.m. zu heilen oder zu ersetzen. Es kann aber dennoch nicht ausgeschlossen werden, dass im Verlauf solcher Forschungsarbeiten unter strengen Auflagen in Zukunft auch Strukturen und Aufbau sogenannter embryonaler Stammzellen im Wege der Grundlagenforschung erforscht und verstanden werden müssen, beispielsweise um die Möglichkeit der In-Vitro-Herstellung von immunverträglichen implantierbaren Geweben und Organen zu prüfen. Eine solche Forschung darf nur in ausgewählten und entsprechend ethischer Richtlinien überprüften und arbeitenden wissenschaftlichen Zentren an vorhandenen Zellen, die aus überzähligen Embryonen nach bereits vorgenommenen künstlichen Befruchtungen gewonnen wurden, erfolgen. Die Forschungsförderung des Staates hat sich ebenfalls an solchen Rahmenbedingungen zu orientieren. Die Herstellung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken ist demgegenüber m.E. ethisch nicht vertretbar. Ebenso notwendig ist die internationale Ächtung des künstlichen reproduktiven Klonens von Menschen.
Hinzu kommen gänzlich neue Risiken für den Umgang mit sensibelsten personenbezogenen Daten. Das "Recht auf Nichtwissen" der eigenen genetischen Disposition ist jedem Menschen zu garantieren. Zu garantieren ist auch, dass Daten über das Genom eines Menschen vor Missbrauch streng geschützt werden und ihr Gebrauch zu medizinischen Zwecken der aufgeklärten Zustimmung des oder der Betroffenen bedarf. Zwangsweise Genomuntersuchungen am Menschen zur Vermeidung von Risiken, beispielsweise für Versicherungsgesellschaften oder Unternehmen, sind ethisch nicht vertretbar.
Auch für den Bereich der genetisch modifizierten Pflanzen und Organismen, also die sogenannte Grüne Gentechnik, ist ein verantwortungsvoller Umgang angezeigt. Dies erfordert eine konsequente Anwendung des Vorsorgeprinzips. Als besonders problematisch anzusehen sind: das Risiko von Allergien, die Gefahr des Überspringens von Genen von Kulturpflanzen auf verwandte Wildkräuter sowie das unbeabsichtigte "Züchten" von resistenten Schadorganismen. Aus ökologischen und sozialen Gründen ist daher Vorsicht und langfristige wissenschaftliche Begleitung erforderlich. Im Bereich der sogenannten Grünen Gentechnik sollte allerdings die zügige Umsetzung der novellierten EU-Freisetzungsrichtlinie in deutsches Recht erfolgen. Kontrollierte Freisetzungen transgener Organismen sind notwendige Bestandteile der wissenschaftlichen Technikfolgenabschätzung. Unbeherrschbare Risiken darf es dabei nicht geben. Die Prinzipien der Rückverfolgbarkeit "vom Ladentisch zur Produktionsstätte" und der Konsumentenselbstbestimmung durch wahre und klare Kennzeichnung müssen durchgängig gewährleistet werden. Die SPD-geführte Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben die Chancen der Biotechnologie für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze erkannt und wichtige erste Weichenstellungen vorgenommen, ohne dabei die ebenso erkannten Risken aus dem Blick zu verlieren. Durch eine konsequente Mittelerhöhung ist Deutschland in der Biotechnologie in Europa zur führenden Nation aufgestiegen. Bereits vor zwei Jahren hat Deutschland bei der Anzahl der Biotechnologie-Unternehmen den bisherigen Spitzenreiter Großbritannien überholt. Von den 1.350 überwiegend kleineren und mittleren Unternehmen in Europa, deren Hauptzweck die Kommerzialisierung der Biotechnologie ist, sind 279 in Deutschland ansässig. Das bedeutet für Deutschland ein Wachstum von 25% gegenüber 1998. Die Bundesregierung wird diese Entwicklung forcieren und durch flankierende Maßnahmen bei Unternehmensgründungen und bei der Nachwuchsförderung zu einer nachhaltigen Stärkung der deutschen Biotechnologie-Branche beitragen. Insgesamt haben sich die Mittel für die Genomforschung seit dem Regierungswechsel vervierfacht. Allein für die Projektförderung in der Biotechnologie werden im Haushalt 2002 des Forschungsministeriums 225 Mio. DM an Fördermitteln veranschlagt. Dies entspricht einer Steigerung gegenüber 1998 um 33,4%. Gleichzeitig wurden umfangreiche Studien zur Technikfolgenabschätzung eingeleitet. Für die neuen Risiken beim Umgang mit sensibelsten personenbezogenen Daten werden im Rahmen der umfassenden Modernisierung des Datenschutzrechtes neue Schutzinstrumente diskutiert.
Die stürmischen Entwicklungen auf dem Felde der Biotechnologie führen Politik, Wirtschaft und auch die Wissenschaft in Grenzsituationen, für die sich mit den klassischen politischen Entscheidungsverfahren keine ausreichend problemangemessene und dauerhaft tragfähige Antworten formulieren lassen. Es ist für mich ebenso undenkbar, dass die Biotechnikunternehmen allein aus ökonomischer Perspektive, Wissenschaftler allein aus wissenschaftlicher Neugier oder eine kirchliche Einrichtung allein aufgrund ihrer religiösen Überzeugung entscheiden, wo die Grenzen biotechnischer Forschung liegen, weil beispielsweise - ich zitiere das Zentralkomitee der Katholiken wörtlich - "die Forscher das Gesamt der Forschung nicht überblicken könne". Das ist richtig und gilt im Umkehrschluss jedoch ebenso für die Religion wie auch für die Wirtschaft und die Politik. Mehr noch als sonst erfordert sinnvolles Handeln von Legislative und Exekutive hier umfassende und sachverständige Beratung und intensive gesellschaftliche Diskussion. Aus diesen Gründen hat der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" eingerichtet und die Bundesregierung den Nationalen Ethikrat unter der Leitung von Professor Spiros Simitis berufen, die beide noch in diesem Jahr ihre Berichte vorlegen wollen.
Wenn eingangs festgestellt wurde, dass es in der modernen Gesellschaft keinen archimedischen Punkt mehr gibt, von dem aus mit dem Anspruch der absoluten Wahrheit und allgemeinverbindlich das Richtige und das Falsche in dieser Welt eingeordnet werden kann, dann gilt das natürlich auch für die Politik. Dennoch sind wir weiterhin auf den offenen Diskurs und auf die Überzeugungskraft des besseren Arguments angewiesen - und hierfür haben wir eben noch keinen besseren Ort als die politische und vor allem demokratische Öffentlichkeit. Somit wird das Parlament angesichts dieser Herausforderungen nicht aus der Verantwortung entlassen, es muss sich jedoch auf komplexere Zusammenhänge und schwierigere Entscheidungsfindungen einstellen, die keine Schwarz-Weiß-Diskussion zulassen.