Jörg Tauss, MdB


Beitrag zur Veröffentlichung des Deutschen Kulturrates

"Kreative in der Informationsgesellschaft"; oder:(Gesellschaftliche) Bedingungen der Möglichkeit von Kreativität

Jörg Tauss, MdB

Allerorten ist derzeit die Klage über die mangelnde Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft zu hören, als deren Ursache vor allem die nachlassende oder fehlende Kreativität der Menschen verantwortlich gemacht wird. Gleich, ob es sich um wirtschaftliche, wissenschaftliche oder auch politische Fragestellungen handelt – immer wieder heißt es: fehlende Flexibilität, allzu starre Strukturen, eingeschliffene Routinen, bürokratische Hürden, fehlende (Lern-) Bereitschaft, mangelnder Ideenreichtum und ausbleibende Kreativität, um nur einige dieser Stichworte zu benennen.

Dieser Beitrag ist überschrieben: "Kreative in der Informationsgesellschaft". Damit stellt sich schon ein erstes grundlegendes Problem: Was ist mit Kreativität eigentlich gemeint? Darüber streitet sich die Kreativitätsforschung seit Jahren, und – schaut man sich deren Ergebnisse an – bleibt m.E. überzeugende Antworten schuldig. Das zweite Problem stellt sich bei der Fragestellung, wer denn eigentlich kreativ sei, und, noch viel schwieriger zu beantworten, wer denn darüber entscheidet? Nun kann und soll es nicht Anliegen dieses Beitrages sein, der Kreativitätsforschung den Job streitig zu machen. Ziel dieses Beitrages ist es vielmehr, in einem ersten Schritt eine Annäherung an den ebenso werbewirksamen wie inhaltlich dürftigen Begriff Kreativität zu versuchen (I). Dabei versucht dieser Beitrag auch nicht, eine wissenschaftliche Definition von Kreativität zu entwickeln, vielmehr soll eine Umkehrung des Blickes dahingehend ausprobiert werden, statt nach dem "Wesen" von Kreativität nach den Bedingungen zu fragen, die Kreativität erst ermöglichen – nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kreativität.

Gefragt ist nach dem Zusammenhang von Kreativität und Informationsgesellschaft – auch ein Begriff, der viele Interpretationen zuläßt. Aus diesem Grund soll in einem kurzen Exkurs in das Konzept Informationsgesellschaft eingeführt werden (II). Gezeigt werden soll, daß ein Verständnis von Informationsgesellschaft dann zu kurz greift, wenn es allein auf wirtschaftliche und/oder technologische Merkmale fokussiert ist. Derzeit lassen sich jedoch vor allem solche Konzepte in der öffentlichen Diskussion finden. Gerade vor dem Hintergrund der hier zur Rede stehenden Kreativität wird die Problematik einer solchen Blickverengung deutlich: Hinge gesellschaftliche Entwicklung allein von technologischen Innovationen ab, bräuchte man die Frage nach der Kreativität gar nicht zu stellen – und wenn, dann allenfalls im Hinblick auf die Kreativität der Ingenieure. Aus diesem Grund soll auch hier die Fragestellung erweitert werden: Setzt man nun die Frage nach der Situation, nach der Bedingung der Möglichkeit von Kreativität, in Bezug zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel, dann nämlich lautet – zumindest aus politischer Perspektive – die Fragestellung etwas anders: Nicht die Frage, wer denn zu den Kreativen der Informationsgesellschaft gehört oder auch nicht, und wodurch sie sich auszeichnen steht im Mittelpunkt des Interesses. Vielmehr lautet die Frage nun: Welche Strukturen braucht die globale Informationsgesellschaft, um Kreativität – und damit Modernität und Innovationsfähigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen – zu ermöglichen (III)? Welche Instrumente – gemeint ist hier keineswegs allein "staatliche Steuerung" (!) – gibt es oder müssen entwickelt werden, um in einer Gesellschaftsformation, die vor allem auf Information, Kommunikation und Wissen basiert, Kreativität zu ermöglichen und zu fördern.

  1. Seid kreativ, seid schöpferisch, seid ideenreich und originell – und alles wird gut. So lautet offenbar – zugegeben etwas verkürzt – das Motto der Kreativitätsdebatte. Damit verbunden werden dann nicht nur individuelle Selbstverwirklichung und persönliches Glück, sondern auch politischer und wirtschaftlicher Erfolg, Bestehen im ökonomischen und gesellschaftlichen Wettbewerb, etc. Was aber ist Kreativität? Gänzlich verloren im kreativen Begriffsdschungel ist man nun, seitdem die Werbewirtschaft die Schlagkraft des Begriffs Kreativität entdeckt hat: Bei einer Suchabfrage im Internet findet man zum Stichwort Kreativität mehr Fundstellen zu PR-Firmen und Werbeagenturen als alles andere. In einer Rezension des sehr lesenswerten Buches über Kreativität von Hartmut von Hentig heißt es: "Es gehört schon ein kritischer Geist wie Hartmut von Hentig dazu, um hinter all dem Kreativqualm die eher dürftige Substanz des Begriffs sichtbar zu machen. Mit viel subtiler Ironie schlägt er dem Leser eine Schneise durch den Begriffsdschungel und geleitet ihn nach nur knapp achtzig Seiten sicher zu der Erkenntnis: ‚So hat denn die Kreativitätsforschung unter großem Kreisen eine Maus geboren.' Im Mittelpunkt des großen Kreisens, oder, etwas weniger polemisch, im Mittelpunkt aller Definitionsversuche von Kreativität stehen immer wieder der Prozeß von Kreativität (als psychischer Vorgang) oder aber das Produkt von Kreativität (das Ergebnis). Vor allem aber wird der Begriff Kreativität immer an der Person festgemacht, die sich durch bestimmte Merkmale als kreativ auszeichne. Derartige kreative Merkmale sind beispielsweise: ursprünglich, unbefangen, originell, neugierig, phantasievoll, einfallsreich usw. "So verfährt man in unseren Humanwissenschaften", so das Resümee von Hartmut von Hentig, "man subsumiert Erscheinungen unter einen Begriff; wer das für eine besonders breit gestreute Zahl von Erscheinungen leistet, ist ein wissenschaftlicher Meister." Vernachlässigt wird dagegen in der Kreativitätsforschung, so fährt er fort, die Situation, die Menschen erst kreativ werden läßt.

    Folgt man den Überlegungen von Hartmut von Hentig, dann hat die Kreativitätsforschung nicht nur die "situative Bedingtheit" ihres Gegenstandes übersehen, vielmehr könne sie zum Gegenstand selbst kaum etwas Substantielles aussagen. Denn auch die eingangs gestellte Frage, was denn Kreativität eigentlich sei und was mit ihr einhergehe, könne die Kreativitätsforschung nicht beantworten. Wichtig ist jedoch vor allem der Verweis auf die situative Bedingtheit von Kreativität. Denn, setzt man allein am Produkt oder am Ergebnis von Kreativität an, so begibt man sich gefährlich nah an Konzepte der Genialität, setzt man allein am Prozeß an, reduziert man das Phänomen auf psychische Schalt-Vorgänge. Aus der Sicht eines Politikers, der sicher zur Erklärung psychischer Vorgänge oder aber zur Personengebundenheit nicht allzuviel sagen kann, möchte ich mich daher auf den dritten Punkt konzentrieren, auf die Frage des Ortes oder der Situation, auf die situative Bedingtheit von Kreativität – und den daraus resultierenden Gestaltungsauftrag an die Politik, Strukturen zu schaffen, die Kreativität zulassen, oder noch besser, Kreativität ermöglichen.

  2. Für die hier zur Rede stehenden Bedingungen von Kreativität wird ein genauer Ort angegeben: die Informationsgesellschaft. Die sich gegenwärtig entfaltende neue Gesellschaftsformation wird mal mit dem Label "Informationsgesellschaft", mal mit dem der "Wissens-" oder auch "Kommmunikationsgesellschaft" etikettiert. Kennzeichen aller derartigen Beschreibungsversuche ist die Tatsache, daß der Prozeß der Kommunikation, die Bedeutung von Information und Kommunikation und der Zugang zu und der Umgang mit Informationen in den Mittelpunkt der Beobachtung und Beschreibung der Gesellschaft gerückt werden. Dieser Wandel der Gesellschaft zur Informationsgesellschaft wird in der politischen Debatte in Deutschland in erster Linie als wirtschaftlich-technologischer Wandel begriffen und erst in zweiter Linie in seiner Tragweite als sozialer oder kultureller Wandel erkannt. Technologische Innovationen gelten als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung, als vorauseilende Kraft. Die Gesellschaft wird in diesem Verständnis als sich dieser Entwicklung anpassende und ewig nachhinkende Größe behandelt. So ist beispielsweise im Vorwort des Berichtes der Bundesregierung "Info 2000 – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" nachzulesen: "Die führenden Industrieländer und damit auch die Bundesrepublik Deutschland stehen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts vor einem Sprung in ihrer wirtschaftlich-technologischen Entwicklung, der hin zur Informationsgesellschaft führt. Dieser Wandel ist keine Vision, sondern bereits in vollem Gange." Und weiter ist zu lesen: "Die modernen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten lösen nach allgemeiner Einschätzung einen technisch-wirtschaftlichen Wandel aus, der in Ausmaß und Folgewirkungen mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu vergleichen ist."

    Als Gründe für diesen Wandel werden die Entstehung eines eigenständigen Bereichs des Wirtschaftssystems – der sogenannten Informationswirtschaft –, die steigende Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich, das Zusammenwachsen von Computertechnik, Telekommunikation und Unterhaltungselektronik, die Verwischung der Grenzen zwischen Industrie und Dienstleistungen und die wachsende Bedeutung der Verarbeitung und Vermittlung von Informationen angegeben. Abgesehen davon, daß man, um einen solchen Wandel zu diagnostizieren, nicht unbedingt sehr visionär sein muß, beschreibt diese Sichtweise nur einen Ausschnitt des derzeitigen Gesellschaftsumbruchs – mit der Folge, daß diese eingeschränkte Sichtweise auch die Konzepte zur Gestaltung bestimmt. Problematisch ist vor allem, daß die hier verwendeten Indikatoren zur Identifizierung der Informationsgesellschaft ebenfalls nur auf ökonomischen und technologischen Merkmalen basieren. Ob allerdings die Anzahl der in einem bestimmten Bereich Beschäftigten und das in diesem Bereich erwirtschaftete Bruttosozialprodukt, ergänzt um Verbreitungszahlen neuer technischer Geräte, zur Beschreibung des sozialen Wandels und dem Entstehen einer Gesellschaftsstruktur genügen können, darf wohl angezweifelt werden. Diese Daten deuten, entgegen manchen wachstumseuphorischen Aussagen, einen basalen Wandel der Gesellschaftsstruktur allenfalls an. Sie als die entscheidenden Identifikationsmerkmale einer neuen Gesellschaftsformation anzusehen, hieße, gesellschaftliche Entwicklung allein mit wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung gleichzusetzen.

    Eine solche Perspektivierung reduziert sozialen und kulturellen Wandel der Gesellschaft auf technologischen Fortschritt und auf nur einen gesellschaftlichen Teilbereich, auf das Wirtschaftssystem. Der Komplexität moderner Gesellschaften und der Komplexität sozialer Veränderungsprozesse kann eine solche reduktionistische Sichtweise nicht gerecht werden. Sozialer und kultureller Wandel folgt keineswegs allein technischen oder ökonomischen Rationalitäten, sondern muß vielmehr als komplexer 'gesamtgesellschaftlicher' Prozeß begriffen werden.

    Gegenwärtig erleben wir die "Sturzgeburt" eines neuen Mediums, das viele Namen hat: Internet, Datenautobahn oder auch Multimedia. Dieses neue Medium wird die Gesellschaft so gravierend verändern, daß von einer neuen Gesellschaft gesprochen werden kann: der Informationsgesellschaft. Dabei führt das Wort Multimedia ein wenig in die Irre: Kennzeichen des neuen Mediums ist nicht das "Viele", Kennzeichen ist vielmehr das Integrieren der bisher nebeneinanderstehenden Medien in einem einzigen. Das Internet integriert Potentiale der mündlichen Direktkommunikation (Plausch oder Telefongespräch), der Printmedien (Brief, Flugblatt, schwarzes Brett, Zeitung und Buch), der audio-visuellen Medien (Rundfunk, Fernsehen, Video). Es steigert deren Kapazität (durch höhere Archivierungs- und Speicherfähigkeit) und Transaktionsdichte (als many-to-many-Medium). Kennzeichen der neuen Gesellschaft ist nicht nur das Vorhandensein dieser neuen Medientechnologie, Kennzeichen ist vielmehr die erneute Ausdehnung der Reichweite der Gesellschaft aufgrund der globalen Vernetzung, die in ihren Folgen früheren medientechnischen Revolutionen wie Erfindung der Schrift oder des Buchdrucks in nichts nachstehen wird. Oder, um bei einem bekannten Bild zu bleiben: Mit dem Ausbau einer globalen Informations-Infrastruktur entsteht eine Art Marktplatz der globalen Informations-(Welt-)Gesellschaft – ein Marktplatz, auf dem nicht nur mit Waren gehandelt, sondern auf dem auch über Wissen und Werte, über Lebensentwürfe und um die Zukunft der Gesellschaft verhandelt wird.

  3. Kehren wir nach diesem kurzen gesellschaftstheoretischen Ausflug zurück zur Ermöglichung von Kreativität vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Umbaus zur Informationsgesellschaft. In der Politik werden derzeit die Weichen gestellt, in welche "Informationsgesellschaft" die Reise gehen soll. Die Fragestellung nach der Kreativität in der Informationsgesellschaft wird in entscheidender Weise von den Weichenstellungen der Politik abhängen, die Bedingung der Möglichkeit von Kreativität wird auch bestimmt von der Kreativität der Medien- und Kommunikationspolitik.

    Wie wichtig die derzeitigen Weichenstellungen auf dem Weg in die Informationsgesellschaft sind, wird deutlich, wenn man sich die Bedeutung, die die – inzwischen schon als traditionell bezeichneten – Medien bereits haben. Diese beschreibt der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann mit dem Satz: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Massenmedien". Bezogen auf die hier formulierte Themenstellung etwas provokativ ausgedrückt: Medien und Kommunikation konstituieren erst die moderne Gesellschaft und die gesellschaftliche Kultur; in der modernen Gesellschaft sind sie unabdingbar in der Generierung von Wissen, Werten und Weltbildern. Den Medien kommt damit in der modernen Gesellschaft eine grundlegende Bedeutung zu: Sie bieten Orientierungswissen für alle Lebensbereiche an, sie begleiten Menschen in allen Tagessegmenten von der Berufsarbeit bis zur abendlichen Entspannung. Kommunikation und Medien prägen die individuelle Sozialisation und die kollektiven Wissens- und Wertbestände der modernen Gesellschaft. Medien stellen Zusammenhänge her, die durch die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft verloren gegangen sind. Medien haben in der modernen Gesellschaft die Funktion, durch Bereitstellung von Informationsangeboten die Integration der Gesellschaft zu garantieren. Sie schaffen eine imaginäre Einheit einer in ihre Teilbereiche zersplitterten Gesellschaft und halten damit – etwas gewagt formuliert– die Gesellschaft aufrecht. Sie füllen Lücken, etwa solche, die durch fortschreitende Ablösung der Familie und anderer tradierter Sozialverbände, aber auch der Schule, als zentrale Sozialisationsinstanzen entstehen.

    Damit wird jedoch auch deutlich, daß, will man sich mit Kreativität beschäftigen, an der Bedeutung der alten und neuen Medien kaum vorbei kommt. Wenn diese nun, beispielsweise mit der Etikettierung als "Informationsgesellschaft", ins Zentrum der gesellschaftlichen Beschreibung rücken, kann man hoffen, daß ihnen auch in der politischen Debatte über die Zukunft der Informationsgesellschaft ein solch hoher Stellenwert eingeräumt wird.

    Wer jedoch in den "Schlachtlärm medienpolitischer Kontroversen" – und das gilt für die deutsche wie für die europäische Diskussion gleichermaßen – hineinhört, wird wenig darüber erfahren, wie eine Kommunikationsordnung der Zukunft aussehen könnte, die die vielen wohlfeilen Verheißungen einlösen kann – Verheißungen von einer demokratischeren Gesellschaft mit einer größeren Teilhabe und Selbstverwirklichung aller, Verheißungen von neuen Arbeitsplätzen und neuen Märkten, Verheißungen eines besseren Lebens. Eine solche zukunftsfähige Kommunikationsordnung ist aber zugleich auch die Bedingung der Möglichkeit von Kreativität in der Informationsgesellschaft.

    Eine fundierte Diskussion über die Möglichkeiten der Gestaltung und über die rechtlichen Rahmenbedingungen einer tragfähigen Kommunikationsordnung in einer globalen Informationsgesellschaft, die diese Anforderungen einlösen können, steht noch immer aus. Auch die bereits Gesetz gewordenen Konzepte - als Beispiele seien hier nur das Telekommunikationsgesetz und das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz in Verbindung mit dem Mediendienstestaatsvertrag genannt – werden angesichts der rasanten Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen den Anforderungen einer zeitgemäßen Kommunikationsordnung nicht gerecht und müssen vermutlich bald gründlich überarbeitet werden.

    Dieses Scheitern der derzeitigen Kommunikationspolitik ist vor allem aus zwei Gründen erklärbar: Zum einen, weil es bis heute nicht gelungen ist, die – wie Peter Glotz es formulierte – "Schachtelpolitiken" zu überwinden. Obwohl – auch in der Politik – immer wieder von der Konvergenz zwischen Medien- und Telekommunikation die Rede geführt wird, werden noch immer die traditionell getrennten Bereiche auseinandergedacht. Ob diese Unterscheidungskriterien angesichts der Dynamik dieses Prozesses Bestand haben können, darf wohl bezweifelt werden. Der zweite Grund für das zwangsläufige Scheitern derzeitiger Medienpolitik ist die einseitige Orientierung an Technik und Markt zu sehen. Die Zauberworte der gegenwärtigen Politik lauten offenbar: Deregulierung und Liberalisierung. In keinem Konzept der Bundesregierung oder der Europäischen Kommission fehlt der Verweis auf die "Zauberkraft" des Marktes. Natürlich wird dem Markt logischerweise – schon angesichts der Milliardenallianzen der Global Player – eine enorme Bedeutung zukommen, aber eben nicht allein! Es wächst zusammen, was bisher noch nicht zusammengehörte. Konkurrent eines Medienriesen wie Bertelsmann könnte in Zukunft durchaus ein Telekommunikationsunternehmen wie MCI sein - Hinweise deuten dies bereits an.

    Gerade vor dem Hintergrund der hier behandelten Themenstellung Kreativität könnte man etwas provokant formulieren: Es ist offenbar leichter, sich – gerade im Hinblick auf die dringend notwendigen Entscheidungen im Bereich der Medien- und Telekommunikationspolitik - auf die altbekannten parteipolitischen Grabenkämpfe, die seit den 70er Jahren die Debatte bestimmen, zu kaprizieren, als neue Wege zu suchen und unter Umständen diese auch parteiübergreifend zu gehen. Nun hat ja gerade Kreativität etwas mit dem Infragestellen von Routinehandeln zu tun. Aufgabe der Politik ist es, konsensuell zu verbindlichen Entscheidungen zu gelangen. Der Stellenwert, der dieser Entscheidungsfindung angesichts der Bedeutung der Medien in der modernen Gesellschaft zukommt, braucht wohl nicht noch einmal ausführlich dargestellt werden. In einer Situation jedoch, in der längst verlorene Grabenkämpfe erneut ausgetragen werden, und der Versuch, durch Abwägen des besseren Arguments zu sachgerechten Entscheidungen zu kommen, gleich als Störung des Systems begriffen wird (z.B. die jüngste Diskussion in der Regierungskoalition nach der Abstimmungsniederlage um den sog. "Großen Lauschangriff"), stehen die Zeichen für eine kreative und innovative Kommunikationspolitik alles andere als günstig.

    Auffällig ist, daß gerade die Konfliktpotentiale der entstehenden Informationsgesellschaft, die zudem oft auf bestehende oder neu zu definierende Grundrechte verweisen, in der aktuellen politischen Diskussion bisher ausgespart bleiben. Drei Beispiele mögen dies verdeutlichen, die alle eines gemein haben: es geht immer um den Zugang zu und den Umgang mit Informationen:

Ausgespart bleiben in der gesellschaftlichen Debatte auch solche Punkte, die als zentrale Bausteine der Informationsgesellschaft angesehen werden müssen: die Entwicklung einer zukunftsfähigen Sicherungsinfrastruktur (Datenschutz und Datensicherheit), die Entwicklung eines zeitgemäßen und wirksamen Schutzes des geistigen Eigentums – um nur einige im Zusammenhang mit Kreativität relevante Fragestellungen zu benennen. Gerade der Schutz geistigen Eigentums in einer globalen Informationsgesellschaft wird eine der zentralen Voraussetzungen dafür sein, Kreativität entstehen zu lassen.

Zweifel dürften also angebracht sein, ob der alleinige Verweis auf die Zauberkraft des Marktes ausreicht, wenn man sich die Bedeutung der Medien bei der Erzeugung von gesellschaftlichem Wissen und Werten und bei den Entwürfen von Weltbildern vergegenwärtigt. Die Sozialisation der Bürgerinnen und Bürger, die Erzeugung von gesellschaftlichem Wissen, die Prägung von Weltbildern – dies sind doch Dinge, die der Kulturstaat nicht allein den Kräften des Marktes und damit gegebenenfalls den Marktmächtigen überlassen darf – und gleiches gilt auch für die Gestaltung von Strukturen, die die Menschen in die Lage versetzen, kreativ zu sein. Doch auch wer nicht allein auf den "sozial blinden" Markt vertrauen will, und auf eine gestaltende Medienpolitik setzt, wird feststellen müssen, daß das Festhalten an regulatorischen Instrumenten der Vergangenheit nicht mehr trägt. Die globale Reichweite des derzeitigen Umbruchs und die Dynamik, mit der sich dieser Prozeß vollzieht, erfordern neue Denk-Ansätze. Wenn den Medien eine solche immense Bedeutung zukommt, so gilt es, tragfähige Konzepte der Medienregulierung zu entwickeln. Das bedeutet nicht Überregulierung und erst recht nicht Inhaltskontrolle oder Bevormundung. Das bedeutet vielmehr, das Ziel einer offenen Gesellschaft neu zu formulieren:

Will die moderne Gesellschaft an ihrem Ziel festhalten, eine möglichst breite Palette von Lebensentwürfen auf der Basis einer noch immer solidarischen Gesellschaft zuzulassen, die die Entfaltung aller erst ermöglicht, will sie die kommunikative Entfaltungsmöglichkeit aller zulassen, die in Zukunft die freie und auch kreative Entfaltung noch entscheidender bestimmt als heute, dann zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Gegenwart, eine zukunftsfähige Kommunikationsordnung zu entwerfen, die diese reale Freiheit auch in der Informationsgesellschaft sichert. Es bedarf einer Struktur der Medien-, Wissens- und Informationsgesellschaft, die dies faktisch zuläßt. Dabei kommt vor allem zwei Themenbereichen eine immense Bedeutung zu: Zuerst wäre die Frage des Zugangs zu Informationen zu nennen. Gegenwärtig läßt sich ein wachsender Konsens beobachten, daß Machtprobleme der Zukunft verstärkt als Zugangsprobleme zu Informationen analysiert und behandelt werden müssen. So fehlt inzwischen in kaum einer (Sonntags-)Rede der Appell, daß eine Spaltung der Gesellschaft in "information rich" und "information poor" verhindert werden müsse. Wie dies jedoch geschehen soll, darüber schweigt man sich aus. Über Parteigrenzen hinweg dürfte Konsens darüber bestehen, daß gerade in einer Informationsgesellschaft der Zugang zu Informationen sichergestellt und daß Zugangsfilterung verhindert werden müssen. Die Frage ist nur – und hier herrscht leider noch kein Konsens –, wie kann man diesen Anspruch verwirklichen? Bisherige Regelungen im Medien- und Telekommunikationsbereich werden teilweise aufgrund der unbestritten notwendigen Liberalisierung, teilweise aufgrund technischer Entwicklungen – Stichworte sind Konvergenz, Digitalisierung und Datenkompression – oder aber aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen – Stichwort Globalisierung – obsolet. Neue Konzepte sind nicht in Sicht. Dennoch gilt es, die Zugangsprobleme ernst zu nehmen. Unterscheiden lassen sich drei Typen von Zugangsproblemen. Zum einen sind es Zugangsprobleme bei der Produktion von Kommunikationsinhalten, Zugangsprobleme bei Übertragungswegen und schließlich Zugangsprobleme der Nutzer, der Rezipienten. Für letztere wurde mit der Verabschiedung des Telekommunikationsgesetzes – wie bereits angesprochen – versäumt, dafür den notwendigen Rahmen zu schaffen. Hier hätte die Möglichkeit bestanden, als Universaldienst nicht einen minimalen Basisdienst – im Wortlaut: Sprachtelefonie mit ISDN-Leistungsmerkmalen wie Anklopfen oder Anrufweiterschaltung – zu definieren, sondern diesen vielmehr auf die ganze Palette "medialer Daseinsvorsorge" der Wissens- und Informationsgesellschaft – also auch auf Medienkommunikation – auszudehnen.

Nicht nur vor dem Hintergrund der Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kreativität stellt sich dann die Frage nach dem Umgang mit Informationen. In der gesellschaftspolitischen Diskussion über die Zukunft der Informationsgesellschaft wurde in letzter Zeit kaum ein Wort so mißbraucht wie der Terminus "Medienkompetenz". Gemeint ist damit – zumindest in der politischen Diskussion – meist nur die Fähigkeit des kompetenten Umgangs mit Computern. Jedoch beschränkt sich die notwendige kulturelle Medienkompetenz als Schlüsselqualifikation der Informationsgesellschaft nicht darauf. Das Prestigeobjekt der Bundesregierung "Schulen ans Netz" ist zwar als ein erster Schritt zu begrüßen, wenn es dabei bleibt, ist es jedoch nicht mehr, als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Was nützt der Schule – wenn sie denn zu jeder vierten (!) Auserwählten zählt – ein Internet-Zugang, wenn die Schüler mit den Informationen nicht umgehen können, wenn die Lehrer nicht zur Vermittlung kultureller Medienkompetenz ausgebildet sind?

Wie der Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten errechnet hat, vergrößerte sich in der Zeit von 1960 bis 1990 allein das Fernsehangebot um 1250%, das Informationsangebot des Hörfunks um 250%, das der Tagespresse um 260% und das der Zeitschriften um 1200%. Innerhalb einer Generation hat sich damit das Medienangebot um rund 3000% vergrößert, während die Rezeptionskapazität des Menschen dagegen nur unwesentlich wächst. Mit den nun entstehenden neuen Medien, mit den neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten wird sich das Informationsangebot innerhalb weniger Jahre nochmals vervielfachen. Gegenwärtig wird die Größe des wohl bekanntesten Dienstes im Internet, des World-Wide-Web, auf mehrere Millionen Seiten geschätzt. Damit stellt sich die Frage, wie der Mensch mit einer derartigen Fülle von Informationen umgehen kann. Medienabstinenz oder Medienreduktion sind sicherlich nicht die richtigen Antworten. Vielmehr kommt es in Zukunft vor allem darauf an, aus dieser unendlichen Fülle von Daten Informationen von Wert herauszufinden und Informationen nach ihrer Glaubwürdigkeit und ihrem Wahrheitsgehalt zu hinterfragen.

Dies wird nur kreativen Menschen gelingen können. Deshalb ist auch die gegenwärtige Entwicklung fatal, gerade in den kreativen Fächern den Unterricht ausfallen oder sie gar zunehmend verschwinden zu lassen. Sonst erinnern die derartigen Antwortversuche eher dem hilflosen Schrei eines Ertrinkenden, dem man die Bedienungsanleitung zum Öffnen der Rettungsinsel ins Wasser wirft, obwohl er nie das Lesen gelernt hat. Auch der Trend, aus Sparsamkeitsgründen Fakultäten jeweils einer Fachrichtung an wenigen Orten zu bündeln ist ein weiteres Beispiel einer solchen Fehlentwicklung. Wenn, beispielsweise, Künstler und Informatiker, Geistes- und Sozialwissenschaftler, Juristen und Mathematiker nicht fachübergreifend und gemeinsam "Wege in die Informationsgesellschaft" entwickeln und beschreiten können, wird dieser Weg auch unter ökonomischen Gesichtspunkten und Erwartungen in eine Sackgasse führen.

Kulturelle Medienkompetenz als eine Grundvoraussetzung von Kreativität setzt vor allem – auch wenn gleichzeitig immer wieder deren Untergang prophezeit wird – Lesefähigkeit voraus. Wie Klaus Ring feststellte, haben wir es inzwischen mit einer ganz neuen Dimension des sekundären Analphabetentum zu tun: In den USA vermutet man heute 40 bis 50 Millionen sekundäre Analphabeten; in Deutschland sollen es drei bis vier Millionen sein; eine neuere Untersuchung in Frankreich ergab, daß etwa 20 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nur noch unzureichend lesen und schreiben können. Lesekompetenz wird im Kindesalter geprägt, Lesefähigkeit hat enge Verbindungen mit der Sprache und dem Ausdrucksvermögen. Und hier sind die Zahlen, die diese Studie angibt, noch erschreckender: Die Zahl der sprachentwicklungsgestörten Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren ist innerhalb von 10 Jahren von ca. 4 auf 24 bis 28 Prozent angestiegen. Oft werden dafür ausschließlich die Medien verantwortlich gemacht. Die Zahlen, die die Kommunikationswissenschaft vorgelegt hat, lassen jedoch eher vermuten, daß das Kommunikationsverhalten als ganzes – also die früh einsetzende Nutzung von Medien, die Kommunikation in der Familie, im Kindergarten und in der Schule – sich verändert hat. Die neuen Medien werden diese Tendenz eher verstärken. Aus diesem Grund müssen so wichtige Initiativen wie "Schulen ans Netz", sollen sie nicht das selbe Schicksal teilen wie der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein, schnellstens ausgebaut werden zu einem Projekt "Klassenzimmer ans Netz". Denn die Grundlagen für Kreativität werden in den ersten Jahren gelegt: in Kindergarten und Schule. Kulturelle Medienkompetenz meint das Vermögen, das man als Buch-Lesefähigkeit, Film-Lesefähigkeit, Medien-Lesefähigkeit, Computer-Lesefähigkeit, Internet-Lesefähigkeit bezeichnen könnte. Die Aufgabe einer vernünftigen und verantwortungsvollen Kommunikationspolitik ist es, Strukturen zu schaffen, die die Teilhabe an der Informationsgesellschaft ermöglicht und damit auch Voraussetzungen dafür schafft, daß Kreativität sich entfalten kann.

Schließen möchte ich meine Ausführungen mit einem Gruß, den man im Internet immer häufiger antrifft – der zwar die vielen berechtigten Ängste und Unsicherheiten nicht aufhebt, aber für das hier angesprochene Thema "Kreativität" und "Kreative in der Informationsgesellschaft" Anlaß zur Hoffnung gibt: "Man liest sich!".


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