Jörg Tauss, MdB


Ein Buchbeitrag fuer den Sammelband

Rutz, Michael (Hrsg.) (1999): Die Byte-Gesellschaft. Informationstechnologie verändert unser Leben.
Olzog Verlag: München. S. 298-313.


"Die Humanisierung der virtuellen Welt" – die sozialen Implikationen der Informationsgesellschaft

"Kein Stein wird auf dem anderen bleiben!"

- mit dieser Quintessenz leitet die Enquete-Kommission "Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" des 13. Deutschen Bundestages ihren 1998 erschienenen Schlußbericht ein. Und weiter heißt es: "Buchdruck, Dampfmaschine und Telefon haben neben anderen Erfindungen den Lauf der Weltgeschichte entscheidend verändert. Vor etwa 30 Jahren überschritten wir die Schwelle ins Computer-Zeitalter, ohne die auf uns zukommenden revolutionären Änderungen dieser Technik vorauszuahnen. Heute leben wir in einer Informationsgesellschaft, die sich in rasantem Tempo global weiterentwickelt. Um nur ein Beispiel zu geben, wie diese Informationsgesellschaft unser Leben verändert: Durch die Revolution der Kommunikationstechnologie wird es möglich, Informationen mit Lichtgeschwindigkeit um den ganzen Globus zu schicken. Bisher bestehende räumliche und zeitliche Beschränkungen verschwinden. Jeder kann mit jedem auf weltweiten Datenautobahnen in Wort, Bild und Ton kommunizieren. Die Welt wird zu einem elektronischen Dorf. Auf dem Weg in die wissensbasierte Gesellschaft kommt der Informationstechnologie eine Schlüsselrolle zu."
Diese Quintessenz erinnert ein wenig an die Formel, mit der Ulrich Riehm und Bernd Wingert - die Autoren der "Multimedia"-Studie des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, die erst zur Einsetzung der Enquete-Kommission führte – bereits 1995 die Programmatik und den Verlauf der gesellschaftlichen Debatte um das Entstehen der Informationsgesellschaft beschrieben: "Mit Multimedia auf der Datenautobahn in die Informationsgesellschaft" (Riehm/Wingert 1995: V). Deutlich macht diese Einschätzung der Kommission jedoch folgende zwei Punkte:

Damit ist auch der Rahmen dieses Beitrages abgesteckt, der mit dem Titel "Die Humanisierung der virtuellen Welt" – die sozialen Implikationen der Informationsgesellschaft überschrieben ist. So sollen in einem ersten Schritt die Defizite der gesellschaftlichen Debatte um die Chancen und Risiken der Informationsgesellschaft aufgezeigt werden, die vor allem in einer eingeschränkten Perspektivierung zu liegen scheinen (I). In einem zweiten Schritt soll kurz auf den Zusammenhang zwischen technischer und gesellschaftlicher Entwicklung und den der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Kommunikationsmöglichkeiten eingegangen werden (II). Vor diesem Hintergrund sollen die mit diesen Techniken verbundenen Ängste und Befürchtungen, die sich bei allen medientechnischen Revolutionen gleichen, thematisiert (III) und darauf aufbauend die Gestaltungspotentiale zur Verwirklichung einer "humanen" und lebenswerten Informations- und Wissensgesellschaft aufgezeigt werden (IV). Wenn man fragt, was denn unter dem Stichwort "Humanisierung der virtuellen Welt" gemeint sein könnte, so geht dieser Beitrag davon aus, daß hierunter vor allem auf folgende zwei Punkte ein besonderes Augenmerk gerichtet werden müßte: Zuvorderst stellt sich mit der Herausbildung der Wissens- und Informationsgesellschaft in einer gänzlich neuen Brisanz die Gefahr einer neuartigen Spaltung der Gesellschaft in "information rich" und "information poor". Daraus ergibt sich unter dem Stichwort "Humanisierung" die erste Fragestellung: Wie kann es gelingen, in einer Gesellschaftsformation, welche die Begriffe Information und Wissen bereits im Namen trägt, den umfassenden Zugang zu und den kompetenten Umgang mit Informationen zu gewährleisten? Und als Kehrseite derselben Medaille stellt sich unter dem Stichwort "Humanisierung" die daran anschließende Frage: Wie können in einer globalen Wissens- und Informationsgesellschaft die Grundrechte, beispielsweise das Recht auf die freie kommunikative Entfaltung des Einzelnen und das informationelle Selbstbestimmung, und damit auch die Verwirklichung einer offenen und pluralen Gesellschaft gewahrt bleiben?

I.

Die Fragestellung nach der "Humanisierung der virtuellen Welt" gewinnt vor allem vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Debatte über die Gestaltung der zukünftigen Informationsgesellschaft an Relevanz: Der sich gegenwärtig vollziehende Wandel der Gesellschaft zur Informationsgesellschaft wird in erster Linie als wirtschaftlich-technologischer Wandel, und erst in zweiter Linie als sozialer oder kultureller Wandel begriffen. Technologische Innovationen gelten als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung, als vorauseilende Kraft; die Gesellschaft könne sich allenfalls den von der Technik vorgegebenen Bahnen anpassen. Das soziale Element wird in diesem Verständnis als sich dieser Entwicklung anpassende und ewig nachhinkende Größe behandelt.
So verwundert es nicht, wenn die damalige Bundesregierung in ihrem Bericht "Info 2000 – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" 1996 feststellt: "Die führenden Industrieländer und damit auch die Bundesrepublik Deutschland stehen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts vor einem Sprung in ihrer wirtschaftlich-technologischen Entwicklung, der hin zur Informationsgesellschaft führt. [...] Die modernen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten lösen nach allgemeiner Einschätzung einen technisch-wirtschaftlichen Wandel aus, der in Ausmaß und Folgewirkungen mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu vergleichen ist."
Als Gründe für den derzeit sich vollziehenden Wandel zur Informations- und neuerdings Wissensgesellschaft werden die Entstehung eines eigenständigen Bereichs des Wirtschaftssystems – der sogenannten Informationswirtschaft –, die steigende Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich, das Zusammenwachsen von Computertechnik, Telekommunikation und Unterhaltungselektronik, die Verwischung der Grenzen zwischen Industrie und Dienstleistungen und die wachsende Bedeutung der Verarbeitung und Vermittlung von Informationen angegeben.
Abgesehen davon, daß man keineswegs sehr visionär sein muß, um einen solchen Wandel zu diagnostizieren, beschreibt diese Sichtweise nur einen Ausschnitt des derzeitigen Gesellschaftsumbruchs – mit der Folge, daß diese eingeschränkte Sichtweise auch die Konzepte zur Gestaltung bestimmt.
Problematisch ist vor allem, daß die hier verwendeten Indikatoren zur Identifizierung der Informationsgesellschaft nur auf ökonomischen und technologischen Merkmalen basieren. Ob allerdings die Anzahl der in einem bestimmten Bereich Beschäftigten und das in diesem Bereich erwirtschaftete Bruttosozialprodukt, ergänzt um Verbreitungszahlen neuer technischer Geräte, zur Beschreibung des sozialen Wandels und dem Entstehen einer Gesellschaftsstruktur genügen können, darf wohl zu Recht angezweifelt werden. Diese Daten deuten, entgegen manchen wachstumseuphorischen Aussagen, einen basalen Wandel der Gesellschaftsstruktur allenfalls an. Sie als die entscheidenden Identifikationsmerkmale einer neuen Gesellschaftsformation anzusehen, hieße, gesellschaftliche Entwicklung allein mit wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung gleichzusetzen. Der Komplexität moderner Gesellschaften und der Komplexität sozialer Veränderungsprozesse kann eine solche reduktionistische Sichtweise nicht gerecht werden. Sozialer und kultureller Wandel folgt keineswegs allein technischen oder ökonomischen Rationalitäten, sondern muß vielmehr als komplexer 'gesamtgesellschaftlicher' Prozeß begriffen werden, der sich vor allem aus den Veränderungen der gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen ergibt.
Ein simpler Blick in die Geschichte der Kommunikation und Medien kann nämlich belegen, daß sie engstens mit der Geschichte des Menschseins verknüpft ist. Die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung ist immer auch Mediengeschichte. Viel treffender als der Vergleich mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft wäre daher die Parallele mit den Gesellschaftsumbrüchen, die als Folge neuer Kommunikationsmittel und -möglichkeiten angesehen werden – etwa mit der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks.

II.

Mit der hier gestellten Frage nach der "Humanisierung der virtuellen Welt" rücken die sozialen Folgen und Auswirkungen der neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten auf den Einzelnen, auf Gesellschaft und Kultur in den Mittelpunkt der Überlegungen. Der Blick allein auf die Folgen verdunkelt jedoch mehr, als er erhellt. Eine solch eingeschränkte Perspektive folgt dem eingangs beschriebenen technologischen Determinismus. Wir beschränkten uns damit bei der Analyse des gesellschaftlichen Wandels auf die passive Rolle des bloßen Nutzers und verhülfen mit dieser Haltung der Idee einer technologischen Eigendynamik erst zur Wirksamkeit.
Ich möchte Ihnen daher vorschlagen, die Blickrichtung für einen Moment umzukehren. In den Blick zu nehmen sind nicht mehr nur die Folgen neuer Medien und neuer Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Vielmehr soll das Augenmerk in der gebotenen Kürze zunächst auf den m.E. grundlegenden Zusammenhang zwischen Kommunikation, Medien, Kultur und gesellschaftlicher Entwicklung gerichtet werden – oder mit anderen Worten: es soll der Versuch einer "kulturgeschichtlichen" Einordnung der "traditionellen" und der sogenannten "neuen Medien" erfolgen.
Neuere Ansätze der Soziologie, der Kultur- und Kommunikationswissenschaft gehen davon aus, daß die Evolution von Gesellschaftsstruktur, Kultur, Kommunikation und Medien eng miteinander verbunden sind. Mit der Evolution von Kommunikation und Medien – also mit den strukturellen Veränderungen der Kommunikationsmittel und -möglichkeiten – einher geht die Evolution der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Kommunikationsmittel und -möglichkeiten bestimmen die Strukturen einer Gesellschaft, sie bestimmen über deren Größe, Reichweite und Stabilität.
Mit der Sprache verfügt der Mensch über ein Medium, also ein Instrument, das es erlaubt, nicht nur mittels "Signalen" auf Verhalten zu reagieren, sondern durch das und mit dem sich Kommunikation entfalten läßt. Die Sprache erlaubt Negation und die Abstraktion durch Formulierung von Begriffen und Definitionen – und damit die Ablösung vom eigentlichen Verhalten. Desweiteren erlaubt Sprache die Ausbildung von Regelungen oder Normen für das alltägliche Zusammenleben. Die Größe und Stabilität von Gesellschaften, die allein über das Medium Sprache verfügen, ist jedoch begrenzt: Die Reichweite illiterater Gesellschaften ist – zeitlich und räumlich – begrenzt durch die notwendige Erreichbarkeit ihrer Mitglieder, was sich beispielsweise noch heute an der Größe mittelalterlicher Marktplätze erkennen läßt.
Die Erfindung der Schrift ist die Antwort auf die Unsicherheiten der Mund-zu-Mund-Kommunikation. Die Verfügbarkeit der Schrift erlaubt es schließlich, den Radius von Gesellschaften enorm auszudehnen und ihre Stabilität zu erhöhen. Durch die schriftliche Fixierung von Aussagen konnte nun eine Dauerwirkung der fixierten Aussagen erreicht, Informationen konnten in verläßlicher Form gespeichert werden. Die Schrift garantierte die Wiedergabetreue der Informationen, die nun im Prinzip für beliebig viele Personen bereitgestellt werden konnten.
Ein weiterer Durchbruch kam mit der Erfindung der Druckkunst im Jahre 1455, dem ersten technischen Massenmedium, das den möglichen Adressatenkreis nochmals um ein Vielfaches vergrößerte. Die wirklich revolutionären Folgen des Buchdrucks lassen sich jedoch erst im nachhinein erschließen. Die Loslösung aus der geistigen Vorherrschaft und dem Weltentwurf-Interpretationsmonopol der Theologie, die Ausbildung der Wissenschaften, das Entstehen von Zeitungen und dem Prinzip Öffentlichkeit, die Entwicklung demokratischer Prinzipien, die Entwicklung einer einheitlichen Hochsprache, die Schulpflicht, die Liste ließe sich beliebig verlängern – all das sind die unvorhergesehenen Folgen des Buchdrucks, all das wäre ohne die Möglichkeit des gedruckten Wortes undenkbar gewesen.
Gegenwärtig erleben wir die "Sturzgeburt" eines neuen Mediums, das viele Namen hat: Internet, Datenautobahn oder auch Multimedia. Dieses neue Medium wird die Gesellschaft so gravierend verändern, daß von einer neuen Gesellschaft gesprochen werden kann: der Informationsgesellschaft. Kennzeichen der neuen Gesellschaft ist nicht nur das Vorhandensein dieser neuen Medientechnologie, Kennzeichen ist vielmehr die erneute Ausdehnung der Reichweite der Gesellschaft aufgrund der globalen Vernetzung. Oder, um beim oben erwähnten Bild des mittelalterlichen Marktplatzes zu bleiben: Mit dem Ausbau einer globalen Informations-Infrastruktur entsteht eine Art Marktplatz der globalen Informations-(Welt-)Gesellschaft – ein Marktplatz, auf dem nicht nur mit Waren gehandelt, sondern auf dem auch über Wissen und Werte, über Lebensentwürfe und um die Zukunft der Gesellschaft verhandelt wird.

III.

Es fällt auf, daß das Entstehen neuer Medien und neuer Kommunikationsmöglichkeiten seit jeher begleitet wird von den Fragen nach den möglicherweise auftretenden – in der Regel negativen – Wirkungen auf den einzelnen, auf die Kultur und Gesellschaft. Bereits die Erfindung der Schrift wurde von Platon mit Sorge betrachtet, da mit der Erfindung des Alphabets den Seelen der Lernenden Vergessenheit eingeflößt werde, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Auch die Erfindung des Buchdrucks wurde zunächst sehr kritisch beurteilt: Kritiker prangerten die Lesesucht der Bürger als Quelle kultureller Verflachung, Verdummung und Verrohung an. Im Jahre 1790 prüfte gar der Bremer Rat offiziell die Lesewut der Bremer Bürgerschaft – konnte jedoch keinen nachteiligen Eindruck auf Charakter und Denkungsart entdecken.
Nun ist nicht nur vom Entstehen eines neuen Mediums sondern vom Entstehen einer neuen Gesellschaftsformation die Rede: der Informationsgesellschaft. Begleitet wird diese Entwicklung von einem Chor euphorischer Stimmen auf der einen Seite, die mit dieser Entwicklung zwangsläufig auch eine bessere Gesellschaft verbinden. Daneben sind aber inzwischen auch Stimmen zu hören, die diese Entwicklung eher mit Skepsis und mit Sorge betrachten. Dabei fällt auf, daß die aktuelle Diskussion um die Gefahren der Informationsgesellschaft mit nahezu identischen Argumenten geführt wird, die bislang jede medientechnische Innovation begleiteten - wenn auch in einer etwas anderen Begrifflichkeit. In vielen Reden über Risiken der neuen Kommunikationsmöglichkeiten finden sich die Befürchtungen wieder, die einst als die Gefahren des Buchdrucks und des Lesens angesehen wurden: Ausgeliefertsein an neue Techniken, Isolierung und Einsamkeit, Verdummung, Verflachung der Kultur, etc.
Dabei kann die Bedeutung, die die Medien bereits in der heutigen Mediengesellschaft haben, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der kürzlich verstorbene Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann beschrieb diese mit dem Satz: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Massenmedien". Bezogen auf die hier formulierte Themenstellung, nämlich die Humanisierung der entstehenden virtuellen Welt, möglicherweise etwas provokativ ausgedrückt: Medien und Kommunikation konstituieren erst die moderne Gesellschaft, sie sind unabdingbar in der Generierung von Wissen, Werten und Weltbildern. Den Medien kommt damit in der modernen Gesellschaft eine grundlegende Bedeutung zu: Sie bieten Orientierungswissen für alle Lebensbereiche an, sie begleiten Menschen in allen Tagessegmenten von der Berufsarbeit bis zur abendlichen Entspannung. Kommunikation und Medien prägen die individuelle Sozialisation und die kollektiven Wissens- und Wertbestände der modernen Gesellschaft. Medien stellen Zusammenhänge her, die durch die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft verloren gegangen sind. Medien haben in der modernen Gesellschaft die Funktion, durch Bereitstellung von Informationsangeboten die Integration der Gesellschaft zu garantieren. Sie schaffen eine imaginäre Einheit einer in ihre Teilbereiche zersplitterten Gesellschaft und halten damit– etwas gewagt formuliert– die Gesellschaft aufrecht. Sie füllen Lücken, etwa solche, die durch fortschreitende Ablösung der Familie und anderer tradierter Sozialverbände, aber auch der Schule, als zentrale Sozialisationsinstanzen entstehen.

IV.

Kehren wir nach diesem kurzen Ausflug in die Mediengeschichte zurück zur Bedeutung des gegenwärtigen Umbaus zur Informationsgesellschaft. In der Politik werden derzeit die Weichen gestellt, in welche "Informationsgesellschaft" die Reise gehen soll. Die Humanisierung der virtuellen Welt wird daher – um die Fragestellung wieder aufzugreifen – in entscheidender Weise auch von den Weichenstellungen der Politik abhängen.
Wer jedoch in den "Schlachtlärm medienpolitischer Kontroversen" – und das gilt für die deutsche wie für die europäische Diskussion gleichermaßen – hineinhört, wird noch immer wenig darüber erfahren, wie eine Kommunikationsordnung der Zukunft aussehen könnte, die die vielen wohlfeilen Verheißungen einlösen kann – Verheißungen von einer demokratischeren Gesellschaft mit einer größeren Teilhabe aller, Verheißungen von neuen Arbeitsplätzen und neuen Märkten, Verheißungen eines besseren Lebens. Eine fundierte Diskussion über die Möglichkeiten der Gestaltung und über die rechtlichen Rahmenbedingungen einer tragfähigen Kommunikationsordnung in einer globalen Informationsgesellschaft, die diese Anforderungen einlösen können, hat gerade erst begonnen. Es fehlt jedoch noch immer ein Entwurf für eine umfassenden Kommunikationsordnung der Zukunft.
Auffällig ist, daß gerade die Konfliktpotentiale der entstehenden Informationsgesellschaft, die auf bestehende oder neu zu definierende Grundrechte verweisen, in der aktuellen politischen Diskussion bisher ausgespart blieben. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch das Stichwort Telearbeit: Zwar stand dieser Terminus oft im Mittelpunkt der Debatte, jedoch oft allein unter dem Gesichtspunkt des Tele-Heimarbeitens, selten in der Bedeutung sogenannten Virtueller Unternehmen und neuer Arbeitsformen. Bedacht werden müssen jedoch auch die Folgen der so entstehenden neuen Arbeitswelt, die daraus resultierenden Probleme für die sozialen Sicherungssysteme und für den Einzelnen, der mit dieser "neuen Welt" zurecht kommen muß.
Will die moderne Gesellschaft an ihrem Ziel festhalten, eine möglichst breite Palette von Lebensentwürfen auf der Basis einer noch immer solidarischen Gesellschaft zuzulassen, die die Entfaltung aller erst ermöglicht, will sie die kommunikative Entfaltungsmöglichkeit aller zulassen, die in Zukunft die freie Entfaltung noch entscheidender bestimmt als heute, dann zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Gegenwart, eine zukunftsfähige Kommunikationsordnung zu entwerfen, die diese reale Freiheit auch in der Informationsgesellschaft sichert. Es bedarf einer Struktur der Medien-, Wissens- und Informationsgesellschaft, die dies faktisch zuläßt.
Dabei kommt vor allem zwei Themenbereichen eine immense Bedeutung zu: Zuerst wäre die Frage des Zugangs zu Informationen zu nennen. Gegenwärtig läßt sich ein wachsender Konsens beobachten, daß Machtprobleme der Zukunft verstärkt als Zugangsprobleme zu Informationen analysiert und behandelt werden müssen. Über Parteigrenzen hinweg dürfte Konsens darüber bestehen, daß gerade in einer Informationsgesellschaft der Zugang zu Informationen sichergestellt, daß eine andere als nutzerautonome Zugangsfilterung verhindert und daß der verantwortungsvolle Umgang mit Informationen ermöglicht werden müssen. Die Frage ist nur, wie kann man diesen Anspruch verwirklichen? Bisherige Regelungen im Medien- und Telekommunikationsbereich werden teilweise aufgrund der unbestritten notwendigen Liberalisierung, teilweise aufgrund technischer Entwicklungen – Stichworte sind Konvergenz, Digitalisierung und Datenkompression – oder aber aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen – Stichwort Globalisierung – obsolet. Neue umfassende Konzepte sind noch nicht in Sicht, wenngleich mit dem in der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschlossenen Informationsfreiheitsgesetz und der anstehenden Umsetzung der EU-Richtlinie zum Datenschutz erste Schritte auf diesem wichtigen Weg gegangen werden sollen.
Denn es gilt, die Zugangsprobleme ernst zu nehmen, handelt es sich hier doch um eine zentrale Infrastrukturaufgabe. Unterscheiden lassen sich drei Typen von Zugangsproblemen. Zum einen sind es Zugangsprobleme bei der Produktion von Kommunikationsinhalten (1), Zugangsprobleme bei Übertragungswegen (2) und schließlich Zugangsprobleme der Nutzer, der Rezipienten und deren Kommunikationskompetenz (3), wozu auch derselbstbestimmte und verantwortungsbewußte Umgang mit Kommunikationsinhalten zu fassen ist. Zu den Zugangsproblemen und den sich daraus ergebenden Folgeproblemen zählen damit insbesondere:

1. Zugangsprobleme bei Übertragungswegen:

2. Zugangsprobleme bei der Produktion von Kommunikationsinhalten:

3. Zugangsprobleme für den Nutzer/Rezipienten und Probleme beim Umgang:

Zweifel dürften also angebracht sein, ob der – bisher oft alleinige - Verweis auf die Zauberkraft des Marktes ausreicht, wenn man sich die Bedeutung der Medien bei der Erzeugung von gesellschaftlichem Wissen und Werten und bei den Entwürfen von Weltbildern vergegenwärtigt. Die Sozialisation der Bürgerinnen und Bürger, die Erzeugung von gesellschaftlichem Wissen, die Prägung von Weltbildern – dies sind doch Dinge, die eine offene und plurale Gesellschaft nicht allein den Kräften des Marktes und damit gegebenenfalls den Marktmächtigen überlassen darf. Doch auch wer nicht allein auf den "sozial blinden" Markt vertrauen will, und auf eine gestaltende Medienpolitik setzt, wird feststellen müssen, daß das Festhalten an regulatorischen Instrumenten der Vergangenheit nicht mehr trägt. Die globale Reichweite des derzeitigen Umbruchs und die Dynamik, mit der sich dieser Prozeß vollzieht, erfordern neue Denk-Ansätze. Wenn den Medien eine solche immense Bedeutung zukommt, so gilt es, tragfähige Konzepte der Medienregulierung zu entwickeln. Das bedeutet nicht Überregulierung und erst recht nicht Inhaltskontrolle oder Bevormundung. Das bedeutet vielmehr, das Ziel einer offenen und pluralen Gesellschaft – und damit die Grundlage einer humanen Gesellschaft, in der Menschen eingebunden und nicht ausgeschlossen werden - neu zu formulieren.

V.

Fazit: Inzwischen sollte deutlich geworden sein, daß die vorangegangenen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Medienentwicklung und Gesellschaftsentwicklung keineswegs versuchen, mögliche Gefahren zu beschönigen oder gar hinwegzureden. Die hier gemachten Ausführungen sollten vielmehr aufzeigen, daß die Entfaltung der Informationsgesellschaft keineswegs schicksalsgleich in den von der technologischen Entwicklung vorgegebenen Bahnen verläuft, sondern als ein gestaltungsoffener Prozeß begriffen werden muß. Mit einer solchen Perspektive wachsen auch die Chancen, diese Entwicklung in gewünschte Richtungen zu steuern. Was die gesellschaftskonstituierende Bedeutung der Medien angeht, die diesen bereits in heutigen modernen Gesellschaft zukommt und die sicherlich auch weiterhin zunimmt, kann man zusammenfassend feststellen, daß es bei der Gestaltung der Informationsgesellschaft nicht nur um die Humanisierung der virtuellen Welt, sondern vielmehr um die Grundlagen der Gesellschaft von morgen geht. Eine Kommunikationsordnung der Zukunft – die Medien- und Telekommunikationspolitik ebenso einschließt wie Bildungs- und Technologiepolitik – muß Strukturen schaffen, die es den Bürgen ermöglicht, das erweiterte Potential an Wissen, Erfahrungen und Lebensentwürfen zu nutzen. Auch die sich abzeichnende neue Gesellschaftsformation, gleich ob sie nun mit Begriffen Informations-, Wissens- oder Kommunikationsgesellschaft etikettiert wird, muß eine offene Gesellschaft sein, mit einer Informations-Infrastruktur, die die freie, kommunikative Entfaltung aller ermöglicht. Nur dann wird die sich herausbildende Informationsgesellschaft auch eine humane Gesellschaft sein.


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